Karners Weltblick: Neutralität und Trachtenverein
Die Ukraine, deren Entwicklung und Schicksal bis zum russischen Überfall am 24. Februar des Vorjahres noch von großen Teilen der Weltöffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen worden war, ist spätestens mit der Teilnahme von Präsident Wolodymyr Selenskyj an der Gipfelkonferenz der Arabischen Liga (AL) und dem G7-Gipfel in Hiroshima endgültig in das Zentrum der weltpolitischen Aufmerksamkeit gerückt.
Selbst wenn der von der AL wieder akzeptierte, von Russland vollständig abhängige syrische Diktator Bashar al-Assad bei der Rede von Selenskyj seine Dolmetsch-Pads ostentativ aus den Ohren nahm, wurde klar: Die Ukraine wird auch von der Arabischen Liga, die große Bedeutung für den von Russland immer wieder als "Verbündeten" in Anspruch genommenen "Globalen Süden" aufweist, als souveräner, selbstbestimmter Staat inklusive den damit verbundenen Rechten wahrgenommen und anerkannt.
Selenskyj findet neue Freunde
Der diplomatische Feldzug Selenskyjs fand seinen vorläufigen Höhepunkt dann beim G7-Gipfeltreffen in Hiroshima. Abgesehen davon, dass sich in diesem Format nicht nur die sieben wichtigsten Industriestaaten der "westlichen" Welt abstimmen (Russland – G8 – war nach der völkerrechtlich illegalen Annexion der Krim bereits 2014 ausgeschlossen worden), findet dabei auf regelmäßiger Basis auch ein systematischer Austausch dieser Staatengruppe mit anderen Nationen statt.
Selenskyj versicherte sich bei dieser Gelegenheit der weiteren Unterstützung der G7-Staaten und erhielt weitere Zusagen umfangreicher Waffenhilfe. Der Präsident der Ukraine nutzte dabei auch die Gelegenheit zu einem Treffen mit dem indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi, der bislang eine eher äquidistante Politik gegenüber den Kontrahenten im Krieg in der Ukraine verfolgt hatte. Modi sicherte Selenskyj nunmehr zu, alles in den Möglichkeiten Indiens Stehende zu tun, um den Krieg zu beenden.
Zu einem Treffen mit dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva kam es unter widersprüchlichen Begründungen allerdings nicht. Brasilien sieht sich bekanntlich als Teil eines "Friedensklubs", der zwischen den Kriegsparteien vermitteln und dem auch China angehören soll. Abgesehen davon, dass angesichts der aktuellen Positionen beider Gegner derzeit kaum realistische Bedingungen für einen Waffenstillstand mit folgenden Friedensverhandlungen gegeben sind, waren bislang mit Ausnahme des frommen Wunsches auch noch keine konkreten Initiativen für ein derartig breites Unterfangen zu erkennen. China, das vermutlich als einziges "neutrales" Land tatsächlich das Gewicht aufweist, wirksam in diesem Krieg zu vermitteln, wird sich aller Voraussicht nach wohl auch kaum den Handlungsspielraum beschränken lassen, seinen sehr allgemein gehaltenen Friedensplan zu konkretisieren, wann und in welcher Form es das selbst für angemessen hält.
Putin wird nicht einmal mehr eingeladen
Parallel zum G7-Gipfel lud China die Staats- und Regierungschefs von Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan zu einem Gipfeltreffen im chinesischen Xian. Dabei handelt es sich um das erste persönliche Treffen der Staatsoberhäupter Chinas und der fünf zentralasiatischen Länder, seit China vor 31 Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion diplomatische Beziehungen zu diesen Ländern aufgenommen hat.
Neben dieser Tatsache und der Vereinbarung umfangreicher bilateraler und multilateraler Zusammenarbeit ist vor allem bemerkenswert, dass Russland zu dieser Veranstaltung nicht einmal eingeladen war. Deutlicher kann man die Auffassung Chinas, wer sich in Hinkunft als Leitmacht im zentralasiatischen Raum sieht – und wer dies nicht sein sollte – kaum zum Ausdruck bringen. Indem China graduell von Russland abrückt (natürlich ohne dabei seine neutrale Haltung aufzugeben), bewegt es sich doch indirekt damit ein Stück Richtung Westen, sodass die Andeutung einer (Wieder-) Annäherung zwischen den USA und China durch US-Präsident Joe Biden möglicherweise berechtigt erscheint.
Für Russland bedeuten diese Ereignisse der letzten Woche eine weitere Erhöhung des politischen Drucks und eine Verstärkung der Isolation, trotz gegenteiliger Beteuerungen. Da kamen militärische Erfolgsmeldungen von der Einnahme der ostukrainischen Stadt Bachmut natürlich mehr als gelegen und wurden auch propagandistisch entsprechend ausgeschlachtet. Auf den zweiten Blick nimmt sich dieser Erfolg allerdings sehr bescheiden aus, wurde doch die Inbesitznahme einer relativ unbedeutenden Stadt durch monatelange Angriffe unter Inkaufnahme von zehntausenden Gefallenen erkämpft. Und die erschöpften Verbände dürften nunmehr kaum in der Lage sein, einen Angriff in Richtung der wichtigeren und größeren Städte Slowjansk und Kramatorsk fortzusetzen. Aus diesen Gründen muss die Schlacht um Bachmut als ukrainischer Erfolg verbucht werden. Die nächsten Wochen sollten zeigen, inwieweit die ukrainische Führung bereit und in der Lage ist, diesen auszunutzen.
... und Österreich fällt ungut auf
Während die Weltlage sich also dynamisch entwickelt, bleibt der Weltblick auch einmal in Österreich hängen, vielleicht auch deswegen, weil es auffällt, wenn eine sich schnell entwickelnde Welt in Bewegung sich immer mehr von einem Land entfernt, das sich nicht bewegen will. Mittlerweile wird das auch im Ausland nicht nur erkannt, sondern im Gegensatz zu den bisherigen Gepflogenheiten des verständnislosen, aber höflich-stillen Kopfschüttelns auch scharf kommentiert. So widmet sich der "Economist" u. a. der starken Russland-Affinität von Politik und Wirtschaft Österreichs. Der ehemalige Ministerpräsident und Außenminister Schwedens, später auch Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina sowie UN-Sonderbeauftragter für den Balkan, Carl Bildt, erkennt eine merkwürdige Eigeninterpretation der Neutralität Österreichs im Lichte seiner Vollmitgliedschaft in der EU.
Und während die Schweiz, hierzulande immer als Vorbild eines Neutralen dargestellt, ernsthaft darüber nachdenkt, 25 Kampfpanzer vom Typ Leopard II an Deutschland zurückzustellen, damit diese an die Ukraine weitergegeben werden können, wird innerösterreichisch mit Argumenten, die die sachliche Unkenntnis mancher Vertreter schonungslos offenlegen, eine kontroversielle Debatte darüber geführt, ob man sich an einer humanitären Entminungsaktivität in der Ukraine beteiligen solle. Das alles ficht das politische System Österreichs aber offenbar nicht weiter an.
Während sich die Welt grundlegend neu strukturiert und im Umfeld ein Krieg tobt, beschäftigt es sich weiter lieber mit sich selbst und freut sich – auf das Militärmusikfestival im Klagenfurter Wörtherseestadion. Neben mutmaßlich allen neun Militärmusikkapellen aus Österreich haben auch solche aus Italien, Montenegro, dem Oman und Slowenien ihre Teilnahme zugesagt. Umrahmt wird das Fest von "Lederhosenrocker:innen", "Hitparadenstürmern" und "Star-Tenören". Tu felix Austria …
Ob die Betrachtung des Militärischen aus dem Blickwinkel von Trachten- und Veteranenvereinen allerdings dem Land frommt, wird sich noch zeigen.
Zusammenfassung
- In der Weltdiplomatie verschiebt sich einiges. Selenskyj findet neue Freunde, Putin gerät immer weiter ins Abseits.
- Österreich fällt mit seiner Russland-nahen Auffassung von "Neutralität" weiter negativ auf.