Sexuelle BelästigungAPA/dpa/Julian Stratenschulte

"Du bist die Erste, die ned reat": Was Frauen erleben

Trotz vieler Maßnahmen zum Eigenschutz sind körperliche und verbale Belästigungen im Leben einer Frau alltäglich. Fast jede kann eine Geschichte erzählen, die Narben hinterlassen hat. PULS 24 hat die Erfahrungen zahlreicher Redakteurinnen anlässlich des Weltfrauentags gesammelt. Sie zeichnen das Bild von Unsicherheit in einem der sichersten Länder der Welt.

Erst vergangene Woche wurde der Fall einer 12-Jährigen, die von 17 Jugendlichen über mehrere Monate hinweg missbraucht wurde, bekannt. Eine Woche davor kamen in Wien bei zwei unabhängigen Frauenmorden fünf Frauen ums Leben

Die Vorfälle sind erschreckend, aber nur der Gipfel des Eisbergs. Sie deuten auf ein strukturelles Problem hin, das alltäglicher nicht sein könnte. 

Zum Weltfrauentag hat PULS 24 redaktionsintern Erfahrungen von Kolleginnen gesammelt. Sie zeigen, dass sexuelle Belästigung noch immer omnipräsent ist. Und gerade deswegen der Hinweis: Die folgenden Erzählungen könnten ein Trigger sein.

Achtsam sein, schon im Kindesalter 

Dabei hat sich sehr schnell herauskristallisiert, dass der Ball, was den eigenen Schutz betrifft, im Feld der Frauen liegt. Während die Burschen Fußball spielen dürfen, besuchen die Mädchen schon im Kindesalter einen verpflichtenden Selbstverteidigungskurs in der Schule. 

Was man dort lernt: Achtsam sein, besonders in der Nacht. Auf dem Heimweg beschleunigen Frauen den Gang, schauen, wer einen verfolgt. 

Dass Frauen diese Dinge oftmals schon im Kindesalter verinnerlichen, zeigt der müde Kommentar einer Kollegin bei der Besprechung des Artikels: Schutzmaßnahmen wie den Schlüssel zwischen die Finger zu klemmen, damit man sich im Falle eines Angriffs verteidigen kann, seien bereits zu geläufig, fast schon uninteressant, geworden. 

Es ist immer der Gedanke da: "Es könnte theoretisch was passieren."

Der Gedanke vieler Frauen beim nächtlichen Heimweg

Schockstarre, Scham und Angst 

Trotz all dieser Vorsorgemaßnahmen kommt es dann aber doch - und das viel zu oft - zu Übergriffen.

Eine Kollegin war erst 17, als sie Opfer von K.o.-Tropfen wurde. "Ein Bekannter von mir hat mich aus dem Lokal getragen, er wollte nur helfen, hat er gemeint. Meine Freundinnen fanden das komisch", erklärt sie uns. Sie wurde im Krankenhaus behandelt.

Dort nahm man sie nicht ernst, glaubte an eine "freiwillige Überdosis" der damals 17-Jährigen. Ein toxikologisches Gutachten stellte dann klar, dass es ein ganzer Drogencocktail gewesen ist. "Die Hand ist seitdem immer auf dem Getränk", sagt sie. 

Ich hab die ganze Zeit nur gebetet, dass ich lebend und sicher Zuhause ankomme.

Empfinden einer Frau, nachdem sie unfreiwillig geküsst wurde

Eine andere Kollegin war 19, als sie mit dem Fahrrad auf dem Heimweg war. Ein fremder Mann versperrte ihr plötzlich den Weg und küsste sie. "Er hat sich vor mich hingestellt und ließ mich nicht mehr vorbei", schildert sie. Sie flüchtete, war schockiert. "Ich hab die ganze Zeit gebetet, dass ich lebend und sicher heim komme", erinnert sie sich. 

Nicht ernst genommen werden 

Mehrere Kolleginnen berichten von Männern, die sich ihnen gegenüber im Bus, in der U-Bahn oder auf freier Straße entblößten und zu onanieren begannen. 

So auch eine damals 19-jährige Kollegin. Auf dem Nachhauseweg blieb ein Auto stehen und fragte sie, wo denn das Einkaufszentrum sei. "Ich wollte helfen, als ich wieder zu ihm schaute, sah er mich grinsend an. Er hatte seine Hose runtergezogen und onanierte", erzählt sie. "Ich hatte Angst um mein Leben".

Du bist die Erste, die ned reat, wenn’s von einem Schwanz erzählt. Die anderen fünf haben alle g’reat. Aber waren auch teilweise jünger als du. Eine war 16.

Ein Polizist zu einer Kollegin, als sie einen Belästiger anzeigte

Sie ging zur Polizei. Dort wurde sie kritisiert, weil sie sich das Nummernschild nicht hatte merken können. "Ich habe mich erniedrigt gefühlt", sagt sie heute. Sie musste den Tathergang aufs Genauste erklären. "Ist er auch gekommen, nachdem er g'wichst hat?", fragte sie der Beamte.

Nach ihrer Schilderung gab ihr der Beamte ein vermeintliches Kompliment: "Du bist die Erste, die ned reat, wenn's von einem Schwanz erzählt. Die anderen fünf haben alle g'reat. Aber waren auch jünger als du. Eine war 16. Na ja...", sagte er zu ihr. 

Doch damit nicht genug: Der Beamte schrieb ihr danach von seinem Privathandy aus, wollte sich mit ihr treffen. Sie blockierte ihn. Danach schrieb er ihr auf Instagram erneut. 

Ich musste mit zwei erwachsenen, fremden Männern in einem Schlafwagen schlafen. Ein ÖBB-Mitarbeiter und einer der Männer hatten null Verständnis dafür, warum das für mich unangenehm ist.

Erlebnis einer Kollegin im "Damenabteil" eines ÖBB-Nachzugs

In der Polizeidienststelle, wo sich die Kollegin Hilfe erhofft hatte, wurde sie zuerst diffamiert, weiter belästigt und nicht ernst genommen.

Mit letzterem haben viele Frauen zu kämpfen. Auch eine weitere Kollegin, die in einem Nachtzug der ÖBB in einem "Damenabteil" schlafen wollte.

Doch stattdessen hätte sie sich ein Abteil mit zwei älteren Männern teilen müssen. "Ich habe mich an einen ÖBB-Mitarbeiter gewandt, er hatte kein Verständnis für meine Bedenken. Ich musste mit den Männern im Abteil schlafen", erklärt sie.

Sie hatte Angst. Am nächsten Morgen meint einer der Männer: "Und, war ja gar nicht so schlimm mit uns zwei Hübschen". 

"Sie hätte es wissen müssen" 

All diese Frauen hatten Schutzmaßnahmen befolgt. Trotzdem kam es zu traumatischen Erfahrungen. Die Frauen lernten damit umzugehen, obwohl ihre Aussagen infrage gestellt wurden.

Sexuelle Belästigungen werden verharmlost, den Frauen die Schuld zugeschrieben. "Sie hätte es wissen müssen, bei dem Ausschnitt", "warum hat sie sich nicht verteidigt" oder "warum hat sie nicht früher was gesagt" bekommen Frauen nicht selten zu hören. 

Die Dinge beim Namen nennen

Die eigentliche Tat rückt dadurch in den Hintergrund. Die Männer, die die Tat zu verantworten haben, rücken in den Hintergrund.

"Die Rechte von Frauen, die Sicherheit von Frauen, das sind keine Frauenthemen", sagte kürzlich Bundespräsident Alexander Van der Bellen in einer Rede anlässlich des Weltfrauentags. "Frauenmorde sind ein Männerthema", fügte er hinzu.

Er nennt die Dinge beim Namen. Es sind nicht gestiegene Frauenmorde, sondern de facto: mehr Männer, die Frauen ermorden.

Sicherheit der Frauen ist ein Männerthema 

Die Sicherheit der Frauen sollte also nicht beim Selbstschutz aufhören. Es braucht auch die Einsicht der Männer, um dieses strukturelle Problem zu lösen. Einen "schöner Hintern"-Kommentar mag er schnell vergessen, sie aber wird Jahre danach nicht ohne übergroßer Jacke aus dem Haus gehen. 

Ein "Grabscher" im Club mag ihm egal sein, ihr läuft aber bereits beim Gedanken daran ein Schauer über den Körper. 

Auch wenn nicht alle Männer eine Frau missbrauchen, ist es noch kein Verdienst, bloß kein Täter zu sein.

Ein Verdienst als Mann ist es stattdessen, einzugreifen, wenn ein Mann eine andere Frau belästigt; etwas zu sagen, zuzuhören, nachzudenken und niemanden im Stich zu lassen.

Es gehört auch dazu, selbst achtsam zu sein - was die Sicherheit aller Frauen im Umfeld angeht, und Frauen mit ihren (leider immer noch erforderlichen) Selbstschutzmaßnahmen nicht allein zu lassen. Und: Selbstschutzmaßnahmen von Frauen dürfen nicht als persönliche Kränkung empfunden werden.

Denn der Ball liegt schon lange nicht mehr im Feld der Frauen, sondern in jenem der Männer.

Gewalt gegen Frauen Femizid Notrufnummern Satzl häusliche Gewalt
ribbon Zusammenfassung
  • Trotz vieler Maßnahmen zum Eigenschutz sind körperliche sowie verbale Belästigungen im Leben einer Frau alltäglich.
  • Fast jede kann eine Geschichte erzählen, die Narben hinterlassen hat.
  • PULS 24 hat die Erfahrungen zahlreicher Redakteur:innen anlässlich des Weltfrauentags gesammelt.
  • Sie zeichnen das Bild von Unsicherheit in einem der sichersten Länder der Welt.
  • Der Schutz gegen sexuelle Gewalt darf nicht primär ein Frauenthema sein.