"Schleichts euch!": Die Realität hinter dem Regenbogen
In glitzernden Outfits und zu lauter Musik wird die Regenbogenflagge geschwungen, die Stimmung ist ausgelassen. Wie jedes Jahr ziehen Tausende um den Ring, feiern gemeinsam und zeichnen ein Bild von Harmonie und Gleichberechtigung.
Doch von wahrer Gleichstellung von LGBTQIA+ (englische Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersexual und Asexual) Personen ist Österreich auch im Jahr 2024 noch weit entfernt.
Die jährlich veröffentlichte "Rainbow Map" zeigt, dass Österreich in Sachen Akzeptanz und Schutz von Homosexuellen im europaweiten Vergleich nur im unteren Mittelfeld liegt. Bestätigt wird das durch die Erfahrungen der Community. PULS 24 hat die Geschichten von Betroffenen gesammelt.
Sie verdeutlichen, dass verbale Diskriminierung, tätliche Übergriffe und Ausgrenzung im Berufs- sowie Privatleben für viele Mitglieder der LGBTQIA+ Community omnipräsent sind.
Gerade deshalb: Die folgenden Erzählungen könnten ein Trigger sein.
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Von verbalen Diskriminierungen …
Ein Betroffener schildert, wie er und sein Freund auf dem Weg in einen Club auf der Rückbank eines Taxis Platz genommen hatten. Sie hielten Händchen, gaben sich ein Bussi, da blieb der Taxler plötzlich stehen.
"Steigen Sie bitte sofort aus", habe er zu ihnen gesagt. Er ging prompt einen Schritt weiter und schmiss die beiden Männer samt einer Freundin aus dem Auto. Dabei hatten der Betroffene und sein Freund nur das getan, was heterosexuelle Paare unentwegt tun können - sich öffentlich als Paar gezeigt.
Sie seien "sprachlos" gewesen, sagte er zu PULS 24.
"Was wollt ihr Homos hier? Schleichts euch"
Ähnlich erging es einem weiteren Mann, wieder spielte sich die Szene in der Öffentlichkeit ab. Er unterhielt sich mit seinem Freund in der Straßenbahn. "Wir verhielten uns ruhig und absolut nicht provozierend", sagt er.
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Aus dem Nichts ging plötzlich ein junger Mann verbal auf die beiden los: "Was wollt ihr Homos hier? Schleicht euch! Was macht ihr in meinem Land?", habe er sie beleidigt. "Ihr seid so ekelig, ihr Arschficker", schrie er.
Ich dachte mir die ganze Zeit, dass ich das jetzt einfach aushalten muss
Die Situation eskalierte weiter, der Mann zückte sein Handy und filmte die beiden Männer. "Ihr seid so krank! Euch sollte man wegschicken!", fuhr er fort.
"Während des Vorfalls dachte ich mir die ganze Zeit, dass ich das jetzt einfach aushalten muss, weil er sehen soll, dass solche Beleidigungen keine Auswirkungen auf unser Leben und die Art, wie wir leben, haben und vor allem, dass er das nicht noch einmal bei anderen macht", schildert der Betroffene.
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Erst als der Ton des Angreifers aggressiver wurde, wandten sich die beiden an den Straßenbahn-Fahrer. Er forderte die Männer auf, in der Fahrerkabine zu bleiben.
Allein ihr Dasein als Paar reichte, um sie zu gefährden. Ein Rückzug schien der einzige Ausweg zu sein, selbst danach waren ihnen die Hände gebunden. Als Jurist wisse der Betroffene, dass der Sachverhalt "für eine gefährliche Drohung einfach zu wenig war". Mit einer Anzeige hätte er "keinen Erfolg" gehabt. Es sei ein "frustrierender, ärgerlicher und verletzender Abend" gewesen.
"Ich werde den aggressiven und bösen Ton seiner Stimme nie vergessen"
...über Ausgrenzung …
Nicht nur Öffis sind oftmals Schauplatz abfälliger Kommentare gegen LGBTQIA+ Personen. Ein weiterer Betroffene schilderte PULS 24 von einem Vorfall während der Corona-Pandemie. Er hatte seine Haare gerade erst pink gefärbt: "Ich wollte aus meiner Komfortzone raus."
Als er unterwegs eine Gruppe Männer passierte, fing einer an, ihn aggressiv anzuschreien. "Scheißkopf", habe der zu ihm gesagt. "Ich werde den aggressiven und bösen Ton seiner Stimme nie vergessen", so der Betroffene. Sein Herz habe zu rasen begonnen, auf dem Weg zurück zur U-Bahn habe er "Angst gehabt".
"Ich habe mich nicht mehr wohl dabei gefühlt, mein pinkes Haar zu zeigen, also habe ich immer einen Hut getragen, als ich das Haus verlassen habe", sagt er.
Obwohl der Fehler bei dem anderen lag, zog der Betroffene Konsequenzen - zu seinem eigenen Schutz. Er limitierte sich, passte darauf auf, weniger Platz in der Öffentlichkeit einzunehmen, weniger aufzufallen.
"Ich weiß nicht, wie viele solcher Videos von mir und meiner Freundin existieren"
Es ist vor allem die Belanglosigkeit, mit der böswillige Kommentare fallen, die die gesellschaftlichen Missstände aufzeigen. Belanglos sind sie aber nur für jene, die sie von sich geben, wie das Beispiel einer weiteren Betroffenen zeigt.
Sie und ihre Freundin küssten sich in einem Wiener Club, eine Szene, die kaum alltäglicher sein könnte. Rund um sie waren genügend heterosexuelle Pärchen, die dasselbe taten. Nur bei den beiden Frauen kamen mehrere Männer immer wieder vorbei und verletzten ihre Intimsphäre, indem sie fragten, ob sie "mitmachen" dürfen.
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Nicht nur einmal seien sie dabei sogar gefilmt worden. "Ich weiß nicht, wie viele solcher Videos von mir und meiner Freundin existieren", so die Betroffene. Als es hieß, sie sollen die Videos löschen, waren die Männer unbeeindruckt. Als hätten die Frauen mit dem Recht auf Sichtbarkeit auch jegliches Recht auf Selbstbestimmung abgegeben.
"Wie kann man sich von Personen so sehr gestört fühlen, die einfach nur ihr Leben leben möchten und niemanden was tun?"
...bis hin zu Übergriffen
Aber es sind nicht nur verbale Diskriminierungen oder Ausgrenzungen, mit denen Mitglieder der Community konfrontiert sind. Immer wieder kommt es auch zu tätlichen Übergriffen. So erzählt ein Betroffener davon, wie er und sein Freund gemeinsam mit einer befreundeten Drag Queen auf den Security-Check für ein Queer-Event in Wien warteten.
Plötzlich spürte er einen dumpfen Schlag auf die Brust. Beim Blick nach unten entdeckte er ein zerbrochenes Ei. "Woher kommt da jetzt ein Ei?", fragte er sich zuerst noch ahnungslos.
Dann die Erkenntnis: Jemand dürfte mit einem Ei in der Hand an der Location vorbeigefahren sein, um die wartenden queeren Menschen zu bewerfen.
Traurige machte ihn weniger die Tat selbst, sondern die Reaktion der Drag Queen: "Sie war nicht überrascht und auch bei uns hat sich die Armseligkeit der werfenden Person erst am Tag danach so wirklich gezeigt", meint er.
Ähnlich verdattert war ein weiterer Betroffener, der beim Händchenhalten von einer fremden Person erst laut angeschrien, beleidigt und angespuckt wurde. Er habe gar nicht so schnell reagieren können, war die Person schon wieder weg, schildert er.
"Im ersten Moment war ich wahnsinnig wütend, im zweiten tat mir die Person aber einfach nur leid", sagt er heute. "Wie kann man sich von Personen so sehr gestört fühlen, die einfach nur ihr Leben leben möchten und niemanden was tun?". Noch heute falle es seinem Freund schwer, seine Zuneigung für ihn öffentlich zu zeigen.
Die Regenbogenflagge wird wieder gesenkt, die Missstände bleiben
Die Schilderungen sind nur ein Bruchteil dessen, was viele Mitglieder LGBTQIA+ Community in ihrem Leben mitmachen müssen. Viele werden immer noch Opfer von weit gewalttätigeren Übergriffen. Wenn also am Samstag die Stimmung ausgelassen ist und die Outfits dazu verleiten, zweimal hinzuschauen, dann ist das nicht nur eine Feier, sondern eine Demonstration.
- Eine Demonstration für ein Miteinander, bei dem queere Menschen sich nicht verstecken müssen.
- Eine Demonstration für die Selbstbestimmung, sodass jeder entscheiden darf, was er oder sie machen will, ohne dafür diskreditiert zu werden.
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Eine Demonstration für das Recht, gesehen, ohne dafür angegriffen zu werden.
Dazu braucht es aber mehr als eine Parade. Dazu braucht es heterosexuelle Menschen, die auch einmal einschreiten, wenn sie Diskriminierungen wahrnehmen und für die Rechte der LGBTQIA+ Community einstehen - nicht nur bei einer Regenbogenparade.
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Dass die Pride genauso wie der Juni als ganzer Pride Month weiterhin nötig sind, machen die Erzählungen von Betroffenen deutlich. Sie stehen jenen Menschen gegenüber, die diese Sichtbarkeit als "plakativ" oder "übertrieben" abtun.
Denn obwohl die LGBTIQIA+ Community in jenem Monat auf sich aufmerksam macht und die Parade nutzt, um gegen Missstände laut zu werden, werden die Regenbogenflaggen im Anschluss wieder abgenommen. Die gewollte Sichtbarkeit gerät in den Hintergrund, wird weniger präsent, die Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Übergriffe bleiben aber bestehen.
Denn am Sonntag nach der Pride Parade ist wieder ein ganz normaler Tag. Und wer da als queere Person die Öffis betritt, soll sich nicht alleine fühlen, auch wenn die große Masse nicht mehr neben ihr geht.
Pride Month: So ist die Situation für die LGBTQIA+ Community
Zusammenfassung
- Am Samstag wird Wien bunt. Im Zuge der Vienna Pride Parade ziehen Menschen durch die innere Stadt, um für Sichtbarkeit sowie die Rechte der LGBTQIA+ Community einzustehen.
- Eine glanzvolle Party, hinter der die bittere Realität vieler Österreicher:innen steht: Diskriminierung, Ausgrenzung und Übergriffe.
- PULS 24 hat Betroffene um ihre Erfahrungen gebeten und die Frage gestellt: Wie tolerant ist Österreich?