Alles Schlammschlacht oder was?
Eine vergessene Backup-Festplatte von Thomas Schmid - frei nach Sebastian Kurz, ein auch von diesem heiß begehrtes "Kastl" - lässt in der ÖVP keinen Stein auf dem anderen. Das 454 Seiten starke Aussage-Protokoll des türkisen Schatten-Finanzministers hat jetzt eine Lawine ins Rollen gebracht, die immer mehr Türkise und deren Nutznießer unter sich zu begraben droht.
Eine Lawine, die zudem auch die Machtverhältnisse noch mehr ins Rutschen bringt. FPÖ und SPÖ fühlen sich in ihren Neuwahl-Forderungen bestätigt. Auch die Neos sind nun auf den Neuwahl-Zug aufgesprungen. Der Verweis auf die multiplen Krisen wiegt für Beate Meinl-Reisinger nicht mehr schwer genug, um aus staatspolitischen Gründen weiter auf der Bremse zu stehen.
Nehammer setzt weiter auf Krisenkanzler-Pose
Nur Karl Nehammer glaubt weiter mit der Formel durchzukommen: "Ich muss mich im Interesse des Landes um die wirklich wichtigen Krisen kümmern." Sprich: Energiepreis-Explosion und Teuerungswelle.
Angesichts der neuen Schmid-Enthüllungen setzt der ÖVP-Chef zum einen gebetsmühlenartig auf "Aufklärung" durch die Justiz. Zum anderen verweist er schmallippig auf bereits gesetzte Transparenz-Maßnahmen in Sachen Parteifinanzen und Medienförderung - und, was Inhalt und Zeitpunkt betrifft, reichlich vage auf weitere Schritte Richtung transparenterer Staat und gläserne Kassen.
Die Grünen fühlen sich durch die jüngsten Schmid-Aussagen zuvorderst bestätigt und erinnern selbstbewusst wie nie daran, Sebastian Kurz mit ihrem Ultimatum - Kanzler- oder Koalitionswechsel - vor einem Jahr gestürzt zu haben.
Grüne zeigen Muskeln aber keine Neuwahl-Gelüste
Sie zeigen darob wieder vermehrt Muskeln und drängen auf die Einlösung weiterer Antikorruptions-Versprechen wie die Aufhebung des Amtsgeheimnisses. Das Risiko von Neuwahlen will auf Sicht auch das grüne Spitzen-Duo Werner Kogler und Sigi Maurer nicht eingehen. Last but not least hat auch der Bundespräsident für seine Verhältnisse blitzartig Flagge gezeigt. Die Wiederwahl vor zwei Wochen wurde zum Turbo in der etwas verschlafenen Hofburg.
Alexander Van der Bellen mahnt angesichts des massiven Vertrauensverlusts der Politik eine "Generalsanierung" ein. Das Staatsoberhaupt macht unmissverständlich klar, dass er Sofort-Maßnahmen gegen das "lähmende Gift der Korruption" von Türkis-Grün samt allen Kräften guten Willens im Parlament erwartet - und nicht von einer allfälligen nächsten Regierung.
Wann kommt Mikl-Leitner aus der Deckung?
Neuwahl versus Neustart - dieses politische Match ist im Moment eindeutig entschieden.
Das Polit-Beben, das Thomas Schmid auslöste, wird nun nicht nur für die ÖVP zum ultimativen Glaubwürdigkeits-Test. Angesichts eines weiter eher hilflos wirkenden ÖVP-Parteichefs wird sich demnächst Johanna Mikl-Leitner aus der Deckung wagen und entscheiden müssen, ob sie mit Nehammers Augen-zu-und-durch-Kurs in die niederösterreichischen Landtagswahlen Ende Jänner gehen will.
Kogler & Co unter Druck von innen, Meinl-Reisingers Wende-Gespür
Bei den Grünen ist noch nicht ausgemacht, ob dort alle in der Führung glauben, bei Basis und Wählern allein mit mehr Druck auf Transparenz-Maßnahmen durchzukommen - zumal offen bleibt, ob die ÖVP hier umfassend mitzieht.
Rot, Blau und Pink sind angesichts stabiler und auch steigender Parteiwerte sowie zunehmender Akzeptanz von Neuwahlen in der bequemsten Position. Sie müssen freilich aufpassen, nicht als jene dazustehen, die nur sieglüstern zuschauen wie die Republikshütte zunehmend in Flammen steht. Der Einwand, dass Neuwahlen das Land mitten in multiplen Krisen für mehr als ein halbes Jahr politisch lähmen würden, ist nicht allein mit dem Argument wegzuwischen, der ÖVP-Wahlsieg sei erschwindelt.
Auch in Sachen Anti-Korruption muss mehr kommen als die verdienstvolle Skandal-Aufarbeitung im U-Ausschuss. Da hatte Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger - einmal mehr als erste - das richtige Gespür, den ÖVP-Korruptions-Ausschuss nicht zu verlängern, sondern statt dessen radikale politische Konsequenzen einzufordern.
Gefährliches Spiel mit Demokratie-Vertrauen
Wer im Polit-Match Neuwahlen versus Neustart am Ende obsiegt, ist noch lange nicht ausgemacht.
Die kommende Parlaments-Sondersitzung wird so auch zu einem Glaubwürdigkeits-Test für Regierung und Opposition. Liefern sich alle Beteiligten weiterhin nur noch eine Schlammschlacht, dann gewinnt ein neu befeuertes Vorurteil bald endgültig die Oberhand: Politik ist und bleibt ein schmutziges Geschäft.
Die liberale Demokratie und das vom Volk gewählte Parlament liefern nur die scheinbar saubere Kulisse.
Josef Votzi ist Journalist und Kolumnist des Magazin "Trend": Seine wöchentliche Kolumne "Politik Backstage" jeden Freitag neu auf trend.at
Zusammenfassung
- Für Neuwahlen gibt es keine Mehrheit. Für einen Neustart fehlt der nötige gemeinsame Wille.
- Der politische Gift-Köcher des Thomas Schmid wird nicht nur für Türkis-Grün zum ultimativen Glaubwürdigkeits-Test, schreibt Josef Votzi in seiner neuen Kolumne.