Türkei-Wahl: "Widerstand leisten bedeutet Hoffnung"
Fast 72 Prozent der wahlberechtigten türkischen Staatsbürger:innen in Österreich hat am Sonntag den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gewählt. Zum Vergleich: In der Türkei selbst erhielt er knapp unter 50 Prozent. Am 28. Mai wird Erdoğan sich seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu voraussichtlich in einer Stichwahl stellen müssen. Dieses Ergebnis kam für viele überraschend, zahlreiche Expert:innen rechneten mit einer Abwahl des Präsidenten. Bei der Wahl kam es außerdem zu vielen Unregelmäßigkeiten, die Opposition hat darum Einspruch bei der Wahlbehörde erhoben.
Trotz der überbordenden rechten Mehrheit gibt es auch in Österreich Stimmen, die sich - oft unter eigener Gefahr - Erdoğan entgegenstellen. Bei PULS 24 erzählen sie, wie sie sich nach dem ersten Wahlgang fühlen und warum sie trotzdem weiterkämpfen.
Nuray, 26, IT-Beraterin
Ich hatte zum ersten Mal in den letzten Jahren die Hoffnung, dass Erdoğan verliert. Das Ergebnis war für mich sehr entmutigend und enttäuschend. Ich kann mich auf nichts anderes mehr fokussieren, weil meine Freund:innen in der Türkei seit Jahren depressiv sind. Ich mache mir Sorgen um sie.
Als Kommunistin lehne ich Erdoğans faschistische Politik ab, die zu immer mehr Privatisierung und Verarmung in der Türkei geführt hat. Es gibt so viele Punkte, die man ansprechen kann. Die hohe Inflation, die Vetternwirtschaft, seine frauen- und queerfeindliche Politik oder seine Assoziation der kurdischen Bewegung mit Terrorismus, die mit der Unterdrückung und Verhaftung der mehrheitlich kurdischen Oppositionellen einhergeht, die demokratisch vom Volk gewählt wurden.
Ich mache mir Sorgen um meine Freund:innen in der Türkei.
Es gibt viele Belege von Wahlfälschungen, wo Stimmen der linken und grünen Yesil Sol Parti der rechtsextremen MHP zugerechnet wurden. Von einer fairen und demokratischen Wahl kann man nicht reden. Trotzdem muss man festhalten, dass Erdoğan zum ersten Mal nicht in der ersten Runde gewonnen hat und deshalb hoffe ich, dass die Opposition stark bleibt und nicht die Hoffnung verliert.
Es klingt so kitschig, aber ich erwarte mir unter Kılıçdaroğlu einfach mehr Demokratie und Mitspracherecht und Dinge wie Meinungs-, Presse- und Medienfreiheit. Ich erhoffe mir eine Kultur, unter der sich Frauen und auch queere Menschen wohlfühlen und keine Existenzängste mehr haben müssen. Ich hoffe, dass die Türkei wieder zu einem Rechtsstaat wird, Politiker:innen zur Verantwortung gezogen werden und auch zurücktreten müssen.
Meine Familie hat leider auch für Erdoğan gestimmt, ich werde oft verurteilt dafür, dass ich zur Opposition gehöre, meine Kritik wird oft persönlich genommen und auf meine Argumente wird von meinen Familienangehörigen und Bekannten, die Erdoğan gut finden, nicht eingegangen. Mir wurde auch vorgeworfen, ich würde mit Terrorist:innen sympathisieren und meine Heimat verraten. Menschen, die so denken, sind auch nicht so offen dafür, dass Türk:innen wie ich ein säkulares Leben führen wollen.
Ich bin, ehrlich gesagt, wütend auf diese Menschen, weil sie hier die Früchte der Sozialdemokratie genießen und diese Privilegien aber den Menschen in der "Heimat" nicht gönnen.
Sümbül, 49, Maler
Ich wohne erst seit vier Jahren in Österreich und bin gemeinsam mit meinem Sohn hergekommen. Mein Vater ist schon seit den 1970ern hier, meine Geschwister sind nach ihm gekommen. Ich habe in Hatay als Maler gearbeitet. Bevor mein Sohn in die Schule ging, konnte ich in der Türkei noch irgendwie leben. Aber danach wurde es schwierig. In der Schule werden die Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen. Ich habe so viel mit Lehrern und den Direktoren gestritten.
Das war eine schwere Zeit. Sie haben sogar begonnen, sich in die Kleidung meines Sohnes einzumischen. Es kam zu vielen Streitereien, ich habe meinen Sohn drei Monate nicht in die Schule geschickt. Ich selbst habe das ausgehalten, aber die Zukunft meiner Kinder ging verloren.
Es gibt so viel, das gegen Erdoğan spricht. Für wen gibt es denn Demokratie in der Türkei? Für mich nicht. Das Wahlergebnis hat mich schockiert, ich habe es nicht erwartet. Ich war überrascht und auch sauer. Für mich ist Erdogan kein Präsident, sondern ein Immobilienmakler. Er hat die Türkei mit seinen Bauwerken überschwemmt.
Für mich ist Erdoğan kein Präsident, sondern ein Immobilienmakler.
Nach dem Erdbeben kam in meiner Heimat Hatay zwei Tage keine Hilfe an, meine Freunde wurde wegen Kritik an Erdoğan festgenommen. Ich bin auch kein großer Anhänger der Politik von Kemal Kılıçdaroğlu, aber ich wähle ihn, weil ich keine Alternative habe. Ich denke, er ist zumindest ein ehrlicher und zuverlässiger Mensch.
Mit Leuten, die in Europa linke Parteien wählen, aber in der Türkei für Erdoğan sind, versuche ich wenig Kontakt zu haben. Das kann ich einfach nicht verstehen.
Dilan*, 23, Studentin
Ich komme aus einer Familie, die immer gegen Erdoğan war. Für meine Familie war er immer korrupt und jemand, der arme Leute noch ärmer macht. Wir sind kurdische Aleviten. Dass ich ihn ablehne, hängt also auch mit meiner Identität zusammen. Manchmal sagt er zwar: "Kurden sind unsere Brüder", aber damit spricht er, wenn, dann nur sunnitische Kurden an. Wir alevitischen Kurden sind bestimmt nicht seine Geschwister.
Dass er im ersten Wahlgang vorne liegt, ist sehr enttäuschend. Aber überrascht bin ich nicht. Ich bin aus Deutschland nach Wien gezogen. Schon bei vorherigen Wahlen war es da so, dass Leute mit Türkei-Fahne, Erdoğan-Poster und sonstigem Merch zu den Wahlen gegangen sind. Mir sieht man allein an meiner Kleidung und meinem Auftreten an, dass ich nicht AKP wähle. Am türkischen Konsulat werde ich dann auch oft anders behandelt. Darum strengt mich wählen zu gehen auch so an. Es ist nervig und mühsam, aber ich werde es wohl noch einmal tun, auch wenn ich kaum mehr Lust darauf habe.
Dabei glaube ich nicht, dass Kılıçdaroğlu alles verändern wird. Vielleicht könnte unter ihm das Land demokratischer werden und die wirtschaftliche Situation sich entspannen. Aktuell ist es ein Ein-Mann-Staat, in dem es eine Meinung und eine Religion gibt. Aber dass es für Minderheiten wie Kurd:innen, Alevit:innen, Armenier:innen oder Jesid:innen und Geflüchtete wirklich besser wird, kann ich mir nicht vorstellen. Wir reden hier immer noch von der Türkei. Das ist ein Land, das seine eigenen Genozide leugnet.
Dass es für Minderheiten wirklich besser wird, kann ich mir nicht vorstellen.
Es ist beängstigend, dass in Österreich und Deutschland so viele Leute Erdoğan wählen. Ich wusste das schon vorher, aber mit der Wahl hat man das Ergebnis schwarz auf weiß. Wahrscheinlich sind nicht alle seine Wähler:innen offen faschistisch, das muss man differenzierter betrachten, aber viele Rechtsextreme fühlen sich unter ihm sicherer.
Falls er die Stichwahl echt gewinnt, wird die Hölle los sein - im Internet und auf der Straße. Ich befürchte, dass seine Wähler:innen dann noch mehr auf Minderheiten im Land losgehen. Auch online wird es eine unangenehme, ekelhafte Zeit. Ich habe von AKP-Wählenden auch hier schon viele Mikroaggressionen erlebt. Das sind oft Kleinigkeiten, aber das macht viel mit einem. Wenn in der Türkei gerade gewählt wird, ist es meistens am schlimmsten.
*Dilans Name wurde verändert.
Alevitisches Kulturzentrum
Die Situation nach dem ersten Wahlgang ist düster und sie erinnert uns daran, wie schwach die Demokratie und wie rassistisch, nationalistisch und rechtsextrem die Stimmung in der Türkei ist.
Kılıçdaroğlu gelang es nur mit der Hilfe der seit langem bedrängten Demokratischen Partei der Völker (HDP) und ihrem Block zumindest eine Stichwahl gegen Erdoğan zu erzwingen. In diesem Sinne hat der Mythos der Unbesiegbarkeit des Präsidenten wirklich einen Schlag erlitten. Es ist sein schlechtestes Ergebnis bei einer Wahl. Der Wahlkampf war gezeichnet von manipulativer, nationalistischer und religiöser Rhetorik.
Das Wahl-Ergebnis von türkischen Staatsbürger:innen in Österreich zeigt deutlich, dass Erdoğans Ideologie für marginalisierte Gruppen wie Kurd:innen und Alevit:innen und viele andere Minderheiten auch außerhalb der Türkei eine große Gefahr darstellt. Die tagelangen brutalen Angriffe seitens türkischer Nationalisten und islamistischer Fundamentalisten auf eine linke kurdische Kundgebung gegen Femizide in Favoriten sind nicht lange her.
Es ist auch kein Geheimnis, dass sich Erdoğan-Anhänger:innen und türkische Rechtsextreme, wie die Grauen Wölfe, in Moscheen wie ATIB oder ALIF (Millî Görüş) organisieren. Diese Vereine dienen schon lange der Verbreitung von Islamismus und türkischem Nationalismus hier in Österreich.
Verliert eure Hoffnung nicht, denn Widerstand leisten bedeutet Hoffnung!
Unsere Aufgabe ist es jetzt, innerhalb der nächsten zwei Wochen, vor allem die jungen Wähler:innen in Österreich zu motivieren, ihr Wahlrecht zu nutzen und für eine demokratische Zukunft zu stimmen.
Aber auch die österreichische Gesellschaft spielt eine große Rolle und muss endlich erkennen, dass diese Ideologien auch hier in Europa aktiv bekämpft und demokratische und progressive Kräfte unterstützt werden müssen. Jegliche Zusammenarbeit mit dem autoritären und rechtsextremen Regime in der Türkei muss sofort beendet und der illegale Angriffskrieg auf Rojava (Nord- und Ostsyrien) und die andauernden Drohnenangriffe auf Zivilist:innen in den betroffenen Gebieten verurteilt werden - nur dann können europäische Staaten auch weiterhin von sich behaupten, demokratische Werte zu vertreten.
Zusammenfassung
- Die umfassende Mehrheit der türkeistämmigen Personen hat bei der Wahl am Sonntag den amtierenden Präsident Recep Tayyip Erdoğan gewählt. Was bedeutet das für Menschen in der Opposition?
- Die 26-jährige Nuray macht sich Sorgen um ihre Freund:innen in der Türkei.
- Die Studentin Dilan* befürchtet, dass sich in der Türkei auch unter Kiliçdaroğlu nicht alles ändern würde.
- Für den Maler Sümbül ist Erdoğan kein Präsident, "sondern ein Immobilienmakler".
- Das Alevitische Kulturzentrum erklärt, warum für sie Widerstand etwas hoffnungsvolles ist.