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Erdbeben: Türkischer Staat abwesend, "wenn es darum geht, Kurden zu retten"

Die Opferzahlen nach mehreren Erdbeben in der Türkei und Syrien steigen stündlich. Die politische Soziologin Rosa Burç erklärt, warum der türkische Staat so schlecht auf die Katastrophe reagiert.

Nach mehreren Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze wächst die Kritik am Umgang des türkischen Staates mit der Katastrophe. Rosa Burç ist politische Soziologin am Center on Social Movement Studies in Florenz und Gastwissenschaftlerin bei INTERACT an der FU Berlin. Sie arbeitet zu politischen Vorstellungswelten von Staatenlosen und ist Expertin für die sogenannte kurdische Frage.

Im Gespräch mit PULS 24 erklärt sie, welche Faktoren die tragischen Folgen des Erdbebens verschlimmern - und wie sie mit der antikurdischen Politik der Türkei zusammenhängen.

Rosa BurcMiro Halef

Die Türkei ist stark erdbebengefährdet. Welche Konzepte hat die türkische Politik, um mit dieser Gefahr umzugehen?

Seit 1999 lebt das Land mit einer sehr starken Erdbeben-Angst. Vor allem in der Marmara-Region im Nord-Westen der Türkei. Dort wartet man auf das große Erdbeben in Istanbul und Izmir.

Wovor in der öffentlichen Wahrnehmung gar nicht gewarnt wurde, ist ein Erdbeben in kurdischen Gebieten im Südosten des Landes. Expert:innen sprechen davon, dass seit Monaten bekannt war, dass es ein Erdbeben geben wird. Es wurden Projekte konzipiert, wie man im Falle eines Erdbebens in genau dieser Region die Bevölkerung schützen könnte. Diese Pläne wurden seitens der zuständigen Ämter abgelehnt. Das ist fatal.

Obwohl das Erdbeben-Risiko bekannt ist, sind die Opferzahlen dramatisch hoch und die Häuser fallen oft zusammen wie Kartenhäuser. Woran liegt das?

Wir haben es mit Häusern zu tun, die überhaupt nicht erdbebensicher gebaut wurden. Das liegt auch daran, wie der türkische Staat in Bauprojekte in Kurdistan oder auch anderen Teilen der Türkei investiert hat. Die Baupolitik der AKP-Regierung (Anm.: AKP ist die Partei Recep Tayyip Erdoğans) ist stark neoliberal orientiert. Es geht darum, viel und schnell zu bauen. Aufträge werden an regierungsnahe Organisationen erteilt. Der Bausektor wird als Profitsektor gesehen.

Die AKP rühmt sich damit, viele Straßen, Krankenhäuser und Hochhäuser gebaut zu haben.

All diese Bauten wurden nicht erdbebensicher gebaut und nicht im Sinne einer Infrastruktur, die auf die Menschen ausgerichtet ist. Im Gegenteil: Man könnte von einer Anti-Infrastruktur sprechen, die der Natur trotzt und die Menschen das Leben kosten kann.

Gerade die AKP-Regierung – aber auch andere Parteien – haben in Kurdistan auf die Logik von Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau gesetzt. Die Kriegspolitik bedeutet mittlerweile auch eine neoliberale Profitpolitik.

Was bedeutet das?

Mit dem Aufbau von zerstörten Städten konnte Profit gemacht werden. Dieser Wiederaufbau wurde nicht an irgendwelche Unternehmen, sondern an die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI gegeben. Die einstürzenden Bauten sind fast ausschließlich TOKI-Bauten.

Die Agentur ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass so viele Menschen um ihr Leben ringen. Es wird nicht gebaut, um den Menschen ein sicheres Leben zu geben, sondern damit Unternehmen Profite machen. Das zeigt sich in dem Erdbeben.

Man hat keinen Raum gelassen für Menschen, sich im Falle einer Katastrophe an einem öffentlichen Ort zu versammeln – es gibt nicht einmal Parks. Diese Orte in Kurdistan sind komplett zugebaut mit Mehrfamilienhäusern von TOKI.

Rettungskräfte brauchen derzeit oft lang, bis sie in die Erdbeben-Gebieten vordringen können. In vielen Orten kommt die Hilfe kaum oder erst sehr spät an. Warum gibt es gerade in der jetzt betroffenen Region keine adäquate Infrastruktur?

Es ist interessant, dass es so lange gedauert hat, bis offizielle Rettungskräfte an allen Orten waren. Es kommt ein Unbehagen auf, wenn wir uns ansehen, wo sofort interveniert wurde vom staatlichen Katastrophenschutz AFAD – und wo nicht.

In Diyarbakir etwa gab es bald Teams des Katstrophenschutzes vor Ort. In Maraş, Elbistan oder der Provinz Hatay war es das genaue Gegenteil. Dabei liegt dort fast jedes Gebäude in Trümmern. Das sind Städte, wo mehr als 24 Stunden auf Rettungsteams gewartet werden musste. Auch Freiwillige konnten die Orte schwer erreichen, weil die Straßen kaputt waren.

Was wurde dabei verabsäumt?

Die Streitkräfte wurden nicht mobilisiert. Die Türkei kann so schnell Militär mobilisieren in ihrem sogenannten Anti-Terror-Kampf. Aber sie kann das Militär nicht zum Schutz der Bevölkerung einsetzen. Wer in kurdischen Städten unterwegs war, weiß, dass die Präsenz des Staates mit seinen Streitkräften, Helikoptern und Militärfahrzeugen überall sichtbar ist. Aber dieses sichtbare Gewaltmonopol des Staates ist abwesend, wenn es darum geht, die Menschen vor Ort zu retten.

Besonders in Hatay sind die Menschen auch gestorben, weil es zu einer zu späten Hilfeleistung kam. Das Militär wurde erst 35 Stunden nach dem Erdbeben mobilisiert. Auch AFAD war nicht direkt überall vor Ort.

Wie sieht der türkische Staat die Region um die türkisch-syrische Grenze?

Der Staat betrachtet diese Region als eine Security Area, eine Sicherheitsregion, die hoch militarisiert ist. Die Infrastruktur zwischen den Städten ist nicht stark ausgebaut. Das hat alles mit der sogenannten Anti-Terror-Strategie des Staates zu tun.

Es gibt eine sehr stark ausgeprägte Sicherheitsinfrastruktur vor Ort. Das hat vielleicht auch dazu geführt, dass Menschen diese Gebiete nicht sofort erreichen konnten. Aber bei staatlichen Organisationen sollte das keine Frage sein. Das ist Missmanagement, das Leben gekostet hat.

Inwiefern spiegelt sich die türkische Politik gegenüber Kurd:innen auch im Umgang mit Naturkatastrophen wider?

Diese Frage lässt uns sagen: Naturkatastrophen sind auch politisch. Seit 2015 wurde jede Zivilgesellschaft in Kurdistan und Solidarität mit Kurd:innen kriminalisiert. In dieser Phase fand die tiefe Autokratisierung der AKP statt. Damit einhergehend auch die Kriminalisierung der HDP (Anm.: linke Partei, die sich für Minderheitenrechte einsetzt, besonders für die kurdische Minderheit) und aller zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ihr Handlungsspielraum ist vollkommen eingeschränkt. Solidaritätsnetze, die man jetzt braucht, können nicht aufgebaut werden.

Wenn man Hilfspakete an Stadtverwaltungen schickt, werden diese von Statthaltern aus Ankara verwaltet. Diese Statthalter werden eingesetzt, um demokratisch gewählte Bürgermeister:innen abzusetzen. Daraus ergibt sich die Frage: Wo landen die Hilfsgüter dann?

Gibt es Unterschiede darin, wie Naturkatastrophen behandelt werden, je nachdem, wo sie stattfinden?

Wenn wir die Naturkatastrophe jetzt in Kurdistan vergleichen mit 1999 in Istanbul, ist ein großer Unterschied sichtbar. Damals war es viel einfacher, sich zu organisieren und zu helfen. Politische Parteien haben Solidaritätskampagnen gestartet. Die Hilfe kam leicht an die Betroffenen.

Jetzt haben wir es mit einer Region und Bevölkerung zu tun, die komplett kriminalisiert ist und nur in einem Sicherheitskontext existiert.

Was lässt sich daraus ableiten?

Der Blick des Staates auf die Kurd:innen führt dazu, dass diese Naturkatastrophen viel schwieriger bewältigt werden können als in anderen Kontexten. Naturkatastrophen sind immer politisch. Sie spiegeln wider, welches staatliche Rational vorherrscht.

Der Staat weiß genau, dass es diese Region gibt. Er sieht sie als eine Region des Profits. Aber wenn es zu Naturkatastrophen kommt, dann sieht sich der Staat nicht mehr so schnell verantwortlich. Der omnipräsente Staat wird unsichtbar, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten.

Was bedeutet "omnipräsenter Staat" in diesem Kontext?

Der türkische Staat war immer sehr präsent, wenn es um neoliberale Kriegs- und Sicherheitspolitik geht. Aber er ist abwesend, wenn es darum geht, Kurd:innen zu retten.

Der Rassismus und Neoliberalismus in der Türkei haben Hand in Hand Menschenleben auf dem Gewissen, die aufgrund von Naturkatastrophen entstanden sind, aber verhindert werden könnten, gäbe es einen anderen Blick auf die betroffene Region, die mehrheitlich von Kurd:innen und Alevit:innen bewohnt ist. Diese Minderheiten wurden systematisch marginalisiert, diskriminiert und strukturell benachteiligt in der Geschichte der türkischen Republik.

Es gibt derzeit viele Spendenaufrufe. Welche Organisationen stellen sicher, dass die Hilfe direkt bei den Betroffenen ankommt?

Es gibt viele Spendenaufrufe von staatlichen Organisationen. Der türkische Rote Halbmond arbeitet beispielsweise zusammen mit dem Roten Kreuz in Österreich und Deutschland. In der Geschichte hat sich der türkische Rote Halbmond oder auch der Katastrophenschutz AFAD oft sehr biased gezeigt, wenn es darum ging, wem die Spenden zugutekommen.

Es ist darum sehr wichtig, auch Spendenaufrufen nachzugehen, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen getätigt werden. Da gibt es etwa in der Türkei die Organisation Ahbap. Es gibt auch die kurdischen Hilfsorganisationen vor Ort. Diese Spenden kommen auch in Rojava, in den kurdischen Gebieten Nord-Ost-Syriens an. Auch über Medico kann man direkt an die Erdbebenopfer spenden.

ribbon Zusammenfassung
  • Die Opferzahlen nach mehreren Erdbeben in der Türkei und Syrien steigen stündlich.
  • Die politische Soziologin Rosa Burç erklärt, warum der türkische Staat so schlecht auf die Katastrophe reagiert.