"Die gespaltene Republik": Türkei vor der Wahl
Angesichts der bevorstehenden türkischen Parlaments- und Präsidentenwahlen am 14. Mai ist ein hochaktuelles Buch erschienen, das die wechselvolle und facettenreiche Geschichte der türkischen Republik von ihrer Gründung bis in die Gegenwart schildert.
"Die gespaltene Republik - Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan" heißt das Werk der Journalistin Çiğdem Akyol. Sie ist bei führenden deutschen und Schweizer Medien tätig und war auch Türkei-Korrespondentin der APA.
Akyol spannt einen Bogen zwischen der Gründung der türkischen Republik 1923 samt ihrer Vorgeschichte über die Wendungen und Konflikte bis in die Gegenwart. Dabei beschreibt sie sehr detailliert die verschiedenen Ereignisse, die zur derzeitigen Situation in der Türkei geführt haben. Die Eckpfeiler der Entwicklung bilden dabei der Kriegsheld und Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk und der seit 2003 als Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident amtierende Recep Tayyip Erdoğan.
Türkei nach europäischem Vorbild gestaltet
Lebten in der Türkei 1923 noch 14 Millionen Menschen so hat das Land heute 85 Millionen Einwohner. Der aus den Trümmern des osmanischen Reiches hervorgegangene Staat sollte nach dem Willen Mustafa Kemals, der später den Familiennamen Atatürk annahm, nach europäischem Vorbild gestaltet werden. Dabei spielten vor allem zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: Die Trennung von Staat und Religion in dem mehrheitlich von sunnitischen Muslimen bewohnten Land und die nationale Einheit.
War das osmanische Reich ein Vielvölkerstaat mit zahlreichen verschiedenen Religionsgemeinschaften so sollte die neu geschaffene Republik einen einheitlich "türkischen" Charakter aufweisen.
Die Religion wurde einer Aufsichtsbehörde unterstellt und die verschiedenen Minderheiten sollten "türkisiert" werden. Das galt sowohl für religiöse als auch für ethnische Gruppen, seien es Kurden, Armenier, Griechen, Aleviten, Schiiten, Christen oder Juden.
Modernisierung der Gesellschaft
Die Modernisierung der Gesellschaft, die unter anderem auch das Wahlrecht für Frauen beinhaltete, wurde dabei von einem Staatskult getragen und dem Militär kam die entscheidende Rolle bei der Wahrung der nationalen Einheit zu. In der Zeit nach Atatürks Tod 1938 griff die Armee wiederholt ein, wenn sie den Laizismus oder die Staatsordnung bedroht sah.
1960 kam es zum ersten Militärputsch gegen den Ministerpräsidenten Adnan Menderes, der wegen seiner Islam-freundlichen Politik am Galgen endete. Obwohl die Türkei danach wieder zu quasi-demokratischen Strukturen zurückkehrte, kam es zu weiteren Militärinterventionen,1971 und 1980, wobei Letztere besonders blutig verlief.
Es war der Islamist Recep Tayyip Erdoğan, der zuerst als Bürgermeister von Istanbul und später als Regierungschef die mit autoritären Mitteln aufrechterhaltene laizistische Ordnung herausfordern sollte. Die von ihm in Angriff genommenen Reformen brachten ihm im In- und Ausland anfangs große Sympathien ein, auch ein EU-Beitritt schien nicht mehr unrealistisch.
Doch zugleich sägte Erdoğan an den laizistischen Grundprinzipien und er geriet zunehmend in Konflikt mit den mächtigen Militärs.
Vermeintliche Gegenspieler zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt
In Prozessen wurde hunderte Militärs und andere wirkliche oder vermeintliche Gegenspieler Erdoğans zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Macht der Armee wurde schließlich nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 gebrochen. Damals stellten sich nach einem Aufruf Erdoğans zahlreiche Menschen den Panzern entgegen.
Der Präsident konnte danach seine Macht weiter festigen, 2017 stimmte die Mehrheit in einem Referendum für die Einführung eines Präsidialsystems.
Autoritärer Regierungsstil
Erdoğans Regierungsstil war bereits in den Jahren davor immer autoritärer geworden. Kritische Intellektuelle, Journalisten, Künstler und Politiker gerieten ins Visier der Behörden. Es gab Mordanschläge wie jenen auf den armenisch-stämmigen Publizisten Hrant Dink. Die anfänglichen Bemühungen zur Lösung des Kurdenkonflikts endeten blutig.
Pro-kurdische Politiker wie der Ex-HDP-Chef Selahattin Demirtaş sitzen seit vielen Jahren im Gefängnis. Zudem veranstaltete Erdoğan eine Hetzjagd auf Anhänger seines früheren Verbündeten und Predigers Fetullah Gülen.
Dass Erdoğan die kommenden Präsidentschaftswahlen gegen seinen kemalistischen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu verlieren könnte, glaubt Buchautorin Akyol eher nicht.
Wie sie im Gespräch mit Vertretern der "Vereinigung der Europajournalistinnen und -journalisten" (AEJ) sagte, sei es Erdoğan immer wieder gelungen, aus den vielen Krisen während seiner Regierungszeit als Sieger hervorzugehen. Zudem erfreue sich seine Partei AKP noch immer großer Popularität, nicht zuletzt unter Auslandstürken.
Doch selbst bei einem Wahlsieg Kılıçdaroğlus und dessen Sechs-Parteien-Bündnis werde sich wenig im Land ändern, vor allem im Hinblick auf die von Erdoğan eingeleitete Islamisierung. Größter Verlierer würden in jedem Fall die Kurden sein, zumal dem Oppositionsbündnis auch die ultranationalistische Iyi-Parti von Meral Akşner angehöre, meinte Akyol.
Erdoğan habe jedenfalls versprochen, nach einem Wahlsieg nicht nochmals zu kandidieren, sondern an eine jüngere Generation übergeben, schreibt Akyol. "Er erinnert aber auch daran, was er aus seiner Sicht erreicht hat: 'Die Türkei ist nicht mehr ein Land, das Befehle entgegennimmt, sondern ein Land, das Befehle erteilt.'"
Zusammenfassung
- Kurz vor der Parlaments- und Präsidentenwahlen blickt die Journalistin Çiğdem Akyol auf die facettenreiche Geschichte der türkischen Republik.