Ein Jahr nach dem Anschlag in Wien: "Was ist unser Leben, wenn unser Kind stirbt?"

Am 2. November 2020 starb Nexhip Vrenesi mit 21 Jahren als erstes Opfer des Attentats in Wien. Im Interview mit PULS 24 sprechen seine Eltern über Wut, Trauer und Hilflosigkeit.

Nexhips Eltern erfuhren durch den Anruf ihres jüngeren Sohns Dennis, dass Nexhip angeschossen worden war. Dann begann eine stundenlange Odyssee durch Wien, auf der Suche nach ihrem Sohn, in der Hoffnung, dass er noch lebt.

Für Keriman und Nasir Vrenesi, die Mutter und den Vater von Nexhip, endete ihr Leben, wie sie es kannten an diesem Tag vor knapp einem Jahr. "Ich habe einen Teil von meinem Körper verloren", schildert Mutter Keriman im Interview mit PULS 24 Chronik-Chefreporterin Magdalena Punz. Das Interview wurde während eines Familienbesuchs in Nordmazedonien geführt, wo Nexhip begraben wurde.

"Wir feiern jetzt keinen Geburtstag mehr"

"Manchmal denke ich 'nein, er ist nicht tot, er kommt wieder'", ist sie angesichts ihrer Trauer ratlos. "Wir haben nichts mehr zu reden, nichts mehr zu planen. Unsere Leben ist schon zu Ende. Wir stehen nur für Dennis auf den Füßen."

Ihr Sohn Nexhip war 21 als sein Leben endete. Er hatte gerade seinen ersten Job, dachte schön langsam ans Heiraten und daran, eine Familie zu gründen. Inzwischen hätte Nexhip seinen 22. Geburtstag gefeiert. Der Tag sei schrecklich gewesen, so die Eltern. "Wir feiern jetzt keinen Geburtstag mehr." 

Ob sie sich mehr Hilfe vom Staat gewünscht hätten? "Uns, glaube ich, kann niemand helfen, das Leben wieder in den Griff zu bekommen. Kinder waren unsere Träume. Unsere Zukunft", sagen die Eltern.

Die Regierung ist verantwortlich

Schuld, da sind sich Keriman und Nasir einig, schuld sei die Regierung, sie sei verantwortlich. "Die hätten sich um ihn kümmern müssen." Den Eltern ist unverständlich, wie es in Österreich, "einem neutralen Land, einem neutralen Staat" soweit kommen konnte. "Die haben die eigene Arbeit nicht richtig gemacht. Wenn sie es richtig gemacht hätten, dann wäre dieser Fehler nicht passiert". Vier Opfer seien umsonst gestorben. 

Der Leidensweg begann am Tag des Anschlags als das Telefon läutete. Ihr Sohn Dennis war dran. "Ich glaube, Nexhip ist angeschossen worden", habe sein Sohn seiner Frau gesagt, erinnert sich der Vater. Dennis sei sehr ruhig am Telefon gewesen, mehr hätte er ihnen nicht sagen können. Später läutete das Telefon erneut. Wieder Dennis. "Dann hat er nochmals angerufen und gesagt: Er ist mit Sicherheit angeschossen worden. Ihr müsst zur Polizei."

Fünf Mal erfolglos bei der Polizei

Die Polizei in Korneuburg soll den besorgten Eltern nicht weitergeholfen haben, empfahl ihnen, die Terrorberichterstattung im TV anzusehen, so wie sie es selbst taten. Dort sei eine Nummer eingeblendet, die sie anrufen könnten, empfahlen die Polizisten. "Wir mussten im Fernsehen schauen, wie unser Kind stirbt. Ich verstehe nicht, was das für Polizisten sind", erinnert sich der Vater verbittert. Sie seien daraufhin wieder heimgegangen, aber im TV wurde die angekündigte Telefonnummer nicht eingeblendet. Insgesamt seien sie fünf Mal bei der Polizei in Korneuburg gewesen. Erfolglos. 

Inzwischen versuchten die Eltern, ihren Sohn per Telefon zu erreichen, doch Nexhip, der sonst immer innerhalb von fünf Minuten zurückrief, meldete sich nicht.

Suche nach Nexhip: "Überall steht Cobra - die schießen auf euch"

Die besorgten Eltern wollten in den ersten Bezirk fahren, die Korneuburger Polizei hätte ihnen davon abgeraten. Der erste Bezirk sei abgeriegelt. "Überall steht Cobra und die wissen nicht wer sie sind…die schießen auf euch", wurden sie gewarnt. "Ich hab gesagt, 'ist mir wurscht, wir gehen schauen. Was ist unser Leben, wenn unser Kind stirbt?'"

Als eine Stunde später Kerimans Bruder kam, fuhren die Eltern nach Wien-Floridsdorf zur Polizei. "Da haben uns die Polizisten gesagt, die in Korneuburg hätten sofort ein Protokoll machen sollen." Sie nahmen das Protokoll auf, wussten aber selbst nichts Genaueres. "Der Polizist dort, der das Protokoll mit mir geschrieben hat, hat sogar mit mir geweint", erinnert sie sich. 

Suche in den Spitälern

Die Polizei empfahl den verzweifelten Eltern beim Krankenhaus Nord nachzufragen. Mit zwei Autos klapperten die Vrenesis die Spitäler ab. Erst das Krankenhaus Nord, dann das AKH, dann das Wilhelminenspital. "Die im Fernsehen haben gesagt jede Straße ist voller Polizisten, aber so war es gar nicht, es war kein Mensch draußen", erinnert sich Keriman. "Wir waren im SMZ Ost, überall (…) da waren keine Polizisten (…) das habe ich nicht verstanden."

Von der Polizei sei ihnen versprochen worden, dass sie kontaktiert werden. "Jemand sollte zu uns kommen. Ich verstehe schon, nicht nach einer oder zwei Stunden - aber bis in der Früh ist niemand zu uns gekommen. Und die wussten es schon. Unser Sohn hat immer bei uns gewohnt. Immer an der gleichen Adresse". Nexhip hatte beim Anschlag seinen Pass dabei, seine Identität war klar. In der Früh holten sie schließlich nach einer schlaflosen Nacht Nexhips Freund ab. Er war Zeuge des Anschlags geworden und hatte Nexhip geholfen. "Er war selbst sehr blutig".

Tragische Gewissheit

Mit ihm fuhren sie zur Polizeistation im ersten Bezirk. Mit Nexhips E-Card in der Hand verlangten sie nach Informationen zu ihrem Sohn. "Ich habe gesagt: Wir suchen diesen Jungen! Ob er lebt oder…" Nexhip sei nicht da, wurde ihnen gesagt. Erst als sie den mitgebrachten Zeugen holten und die Beamte ihn wiedererkannten, wurden die Eltern hineingelassen. Man brachte ihnen zwei Gläser mit Wasser. "Wir haben gewusst, dass Nexhip nicht mehr lebt als sie das Wasser hingestellt haben … Dann haben sie kein Wort mehr gesagt".

Nexhips Freund ging mit dem Vater vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. "Er hat zu mir gesagt, es ist nicht weit von hier…wir müssen nur gerade gehen. Und da haben die gerade den Tatort vermessen und dann habe ich gesagt 'er ist nicht mehr am Leben'". Bei der Rückkehr bestätigte das auch die Polizei.

"Zwei bis drei Tage später haben wir uns mit einem Ermittler getroffen, der uns erzählte, er habe eine halbe Stunde auf ihn (Nexhip, Anm.) aufgepasst. (...) Warum hat sich niemand gemeldet? Wenn er ein Organ gebraucht hätte, ich hätte ihm eines gegeben, meinen ganzen Körper hätte ich ihm gegeben, wenn er überlebt hätte",  hadert die Mutter mit den Vorkommnissen der Terror-Nacht. "Wären sie gleich hingegangen, dann hätte er überlebt", ist sich Keriman sicher. 

Leiche wurde acht Tage zurückgehalten

Offiziell erfahren, dass Nexhip ein Opfer des Terror-Anschlags wurde, haben Keriman und Nasir Vrenesi am nächsten Tag, "um sieben oder acht". Die Leiche ihres Sohnes durften die Eltern anfangs nicht sehen. Wegen Corona. "Nach acht Tagen durften wir ihn sehen. Er wurde freigegeben und dann haben wir ihn nachhause überstellt. Keiner ist gekommen und hat … Wir haben uns selbst um das gekümmert." Nexhip fand in Mazedonien, wo er geboren wurde, die letzte Ruhe. "Wir wollten, dass er bei seinen Vorfahren begraben wird."

Für die Überstellung bekamen die Eltern vom Staat einige Tausend Euro. Kein Mitglied der Regierung hätte sich bei ihnen gemeldet, um offiziell zu kondolieren. Nexhips Eltern glauben den Grund dafür zu kennen: "Weil sie schuld sind. Das glauben wir. Ganz logisch. Die wollen die eigene Schuld nicht zugeben." Inzwischen legen sie auch keinen Wert mehr darauf, kontaktiert zu werden. "Nach einem Jahr? Jetzt ist es zu spät … die hätten das sofort machen sollen. Ich glaube, einmal haben sie mich angerufen. Aber der Bürgermeister hat gesagt, das war sicher die Zeitung".

Großer Themenabend auf PULS 4

Am 2. November 2021 jährt sich der Terroranschlag in der Wiener Innenstadt bei der vier Menschen und der Attentäter ums Leben kamen. Am Donnerstag, dem 28.10 ab 20.15 Uhr, blickt PULS 4 in einem PULS 4-SPEZIAL zurück und spricht mit Opfern, Angehörigen von Opfern, Expert:innen und Augenzeug:innen.

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  • Am 2. November 2020 starb Nexhip Vrenesi mit 21 Jahren als erstes Opfer des Attentats in Wien. Im Interview mit PULS 24 sprechen seine Eltern über Wut, Trauer und Hilflosigkeit.