Anschlag in Wien: "Jemand muss dafür die Verantwortung tragen"
Es ist der Abend des 2. November 2020, der Österreich nachhaltig erschüttert. Ein Terroranschlag mitten in der Wiener Innenstadt, wenige Stunden vor dem zweiten Lockdown. Zum letzten Mal für mehrere Wochen sind Restaurants, Schanigärten und Bars geöffnet. Hunderte Menschen flanieren durch die Gassen rund um das Bermudadreieck, treffen Freunde auf ein Getränk, genießen den Abend, feiern ausgelassen. Um kurz vor 20 Uhr fallen die ersten Schüsse. Eine Person, weiß gekleidet, schwarze Kapuze, womöglich mit einen umgeschnallten Sprengstoffgürtel, läuft durch die Gassen und beginnt mit einer automatischen Waffe wahllos auf Passanten sowie auf Besucher in den Gastgärten zu schießen.
Zufällig anwesende Kamerateams liefern erste Live-Bilder, sie zeigen dramatische Szenen flüchtender Menschen, Personen, die sich in den Bars verschanzen. Die Nachrichtenlage bleibt für Stunden unübersichtlich, niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, ob nicht mehrere Attentäter durch Wiens Gassen streifen und einen koordinierten islamistischen Terrorangriff durchführen.
Die Social-Media-Kanäle quellen über von Nachrichten verzweifelter Menschen, die nicht wissen, wo ihre Freunde oder Angehörigen sind, aber auch von Falschnachrichten und ersten Bildern von Opfern. Binnen weniger Minuten sind Einsatzkräfte und Spezialeinheiten vor Ort, die Innenstadt wird komplett abgeriegelt. Menschen werden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen.
Welche Fehler wurden gemacht?
Neun Minuten
Es wird neun Minuten dauern, bis der Attentäter erschossen ist. Neun Minuten, die vier Todesopfer und zahlreiche zum Teil schwer verletzte Menschen fordern werden. Neun Minuten, die das Leben von Eltern, Geschwistern, Freunden und Verwandten der Opfer für immer verändern. Es sind aber auch neun Minuten, die das Vertrauen in den Rechtsstaat und in den österreichischen Geheimdienst nachhaltig erschüttern werden.
Binnen kürzester Zeit kann die Polizei die Identität des getöteten Attentäters feststellen. Der gebürtige Österreicher mit mazedonischen Wurzeln war den Behörden seit Jahren bekannt. Er wollte nach Syrien reisen und sich dem "Islamischen Staat" anschließen, wurde in der Türkei verhaften und an Österreich ausgeliefert. Dafür saß er im Gefängnis und wurde vorzeitig aus der Haft entlassen. Was danach passiert, kann einem kürzlich veröffentlichten Untersuchungsbericht als "multiples Staatsversagen" bezeichnet werden. Das Attentat hätte verhindert werden müssen, es sei zu einem Totalversagen der Behörden gekommen.
Vor den Augen der Behörden
PULS 24 hat Einblick in alle Ermittlungsakten. Es sind tausende Seiten, die schonungslos dokumentieren, wie sich der Attentäter nach seiner Entlassung vor den Augen der Behörden wieder in islamistischen Kreisen bewegen konnte, wie er sich mit amtsbekannten Islamisten aus der Schweiz und Deutschland treffen konnte, wie er in der Slowakei Waffen und Munition kaufen wollte. In den Akten sind auch seitenlang Chats und minutiöse Überwachungsprotokolle zu lesen. Sie zeigen Bilder von Treffen in einschlägig bekannten Moscheen, liefern tiefe Einblicke in eine islamistische Szene, von der eindeutig eine Bedrohungslage hervorging. Mehrmals hat der spätere Attentäter gegen Bewährungsauflagen verstoßen, hätte jederzeit wieder verhaftet werden können. Die gesetzlichen Rahmenbedingen wären dabei völlig ausreichend gewesen.
Erste Konsequenzen
Knapp vier Monate nach dem Attentat sind die wichtigsten Fragen immer noch nicht geklärt. Die Ermittlungen laufen schleppend, immer noch steht der Verdacht im Raum, dass es sich beim Attentäter doch nicht um einen Einzeltäter gehandelt hat, dass es Helfer und Mitwisser geben hat müssen. Ungeklärt ist auch, woher er seine Waffen und Munition bezog. Zumindest innerhalb der Behörden wurden erste Konsequenzen gezogen. Konkret wird gegen drei Beamte ermittelt, darunter der ehemalige Leiter des Wiener Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT). Bei den Vorerhebungen geht es unter anderem um Amtsmissbrauch, teilweise durch Unterlassung.
Nedzips Pläne für die Zukunft
Unerträglich
Für die Angehörigen der Opfer eine unerträgliche Situation. In ihre Trauer und Verzweiflung mischt sich auch Wut. Wut über das Versagen der Behörden, Wut über ein Attentat, das nicht stattfinden hätte dürfen. Aber auch Enttäuschung über die Politik, wie die Eltern und der Cousin von Nedzip V. im Exklusiv-Interview mit PULS 24 sagen. Nedzip V. war das erste Opfer des Attentäters. Der 21-jährige wurde in der Judengasse erschossen. Bis heute warten die Eltern auf ein Zeichen der Politik, auf eine Entschuldigung oder eine Geste. Bislang wurde ihnen nur etwa 3.000 Euro zugesprochen, das reicht nicht einmal aus um das Begräbnis oder den Psychologen zu bezahlen.
Ich schaue noch immer zur Türe und hoffe, dass er zurückkommt
Verantwortung
Im Gespräch mit PULS-24-Chefreporterin Magdalena Punz stellen sie klar, dass es ihnen nicht "um eine finanzielle Bereicherung" geht. Die Familie hat bereits im Vorfeld angekündigt, dass sie alles für wohltätigten Zwecke spenden wollen. Es geht ihnen um Verantwortung. "Wir können die Sache nicht einfach unter den Tisch geben. Jemand muss dafür Verantwortung tragen", erklärt der Cousin. Denn "wären diese Pannen nicht gewesen, dann wäre Nedzip jetzt noch hier und nicht da, wo er jetzt ist".
Auch knapp vier Monate nach dem Anschlag steht die Familie noch unter Schock. "Die Frau wartet noch immer, dass er nachhause kommt. Aber ich weiß, er kommt nicht nachhause", erzählt Nedzips Vater. Sein Cousin ergänzt: "Man kann mit der Mutter reden, man kann mit dem Vater reden" um die Wunden zu lindern, "aber durchs Nichtstun werden die Wunden nur noch größer".
Magdalena Punz über das Interview
Zusammenfassung
- Am 2. November 2020 tötete ein Terrorist in Wien vier Menschen und verletzte über 20 schwer.
- Was danach passiert, kann einem kürzlich veröffentlichten Untersuchungsbericht als "multiples Staatsversagen" bezeichnet werden.
- Im exklusiven PULS 24 Interview fordern die Eltern die Regierung auf, endlich Verantwortung zu übernehmen.
- Auch knapp vier Monate nach dem Anschlag steht die Familie noch unter Schock.
- "Die Frau wartet noch immer, dass er nachhause kommt. Aber ich weiß, er kommt nicht nachhause", erzählt Nedzips Vater.