Gerald Karner WeltblickPULS 24

Karners Weltblick: Offensive und Zögern

Bald sind es nun eineinhalb Jahre, dass Ukraine um sein Überleben kämpft. Putins Vision einer "russischen Welt" steht ein strategisch zögerliches Westeuropa gegenüber.

Die Ukraine wird von einem übermächtigen Gegner existenziell bedroht, der mittlerweile beinahe alle seine Möglichkeiten ausschöpft, um den Angriffskrieg zu einem für ihn erfolgreichen Ende zu führen. Dazu gehören nicht nur enorme militärische Aufwendungen, um die Streitkräfte der Ukraine zu zerschlagen, sondern auch geradezu wütende Versuche, die ukrainische Bevölkerung ihrer Lebensgrundlagen und damit ihrer Widerstandskraft zu berauben.

Waren es im Winter noch massive Angriffe auf die kritische Infrastruktur des Landes, so sind es jetzt hauptsächlich Schläge auf die verbliebenen Exporthäfen für ukrainisches Getreide und Getreidelager selbst. Dass dadurch nicht nur Ukraine, sondern auch und besonders jene Menschen in den Ländern des Globalen Südens potenziell besonders leiden, die zunehmend weniger Zugang zu Getreideprodukten haben, darauf nimmt das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin offenbar genauso wenig Rücksicht wie auf die durch dieses Vorgehen beeinträchtigten Interessen des als "Freund" bezeichneten China.

 

Aber Rücksichtslosigkeit und Hunger als Waffe fügt sich nahtlos ins Bild eines zu allem entschlossenen, russischen Regimes, das Kriegsverbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Folter und Deportation offenbar gezielt einsetzt, um - wie es der russische Expräsident und stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, unverblümt als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen zum Ausdruck brachte - den "Gegner auf die Knie zu zwingen und um Gnade winseln" zu lassen.

Nach Auffassung vieler namhafter Experten ist der Tatbestand von Kriegsverbrechen seitens der russischen Streitkräfte erwiesen, vieles deutet darauf hin, dass ihr Vorgehen genozidale Züge trägt, gegen Präsident Putin selbst wird vom Internationalen Strafgerichtshof zunächst wegen Kinderdeportation ermittelt.

Putins Idee eines "russischen Welt"

Auf dieser Basis zeigt sich klar, dass das Regime von Wladimir Putin sehr wohl bereit ist, die auch von ihm selbst immer wieder beschriebenen krausen Ideen einer "russischen Welt", eines großrussischen Reiches mit weit gestecktem Glacis, in welchem es seine Interessen ungehindert durchsetzen könnte, mit Waffengewalt und Terror zu verfolgen. Wenn schon nicht annektiert, würde von Belarus bis Armenien und Aserbaidschan ein geostrategisches Vorfeld von abhängigen Staaten mit Marionettenregimes installiert, ein für Europa bedrohlicher Block eines Potenzials ähnlich der Sowjetunion.

Warum das hier wiederholt dargelegt wird? Weil nur wenig darauf hindeutet, dass die Bevölkerungen und die Staatskanzleien der west- und mitteleuropäischen Länder die Tragweite des Krieges in der Ukraine erkannt haben und bereit bzw. in der Lage sind, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und diese in Handlungen umzusetzen.

Wenn aktuelle Umfragen etwa in Frankreich und Deutschland Mehrheiten für "Putin ist ein starker Führer" und "Die USA und der Westen tragen eigentlich die Schuld am Krieg in der Ukraine" ergeben, so ist dies natürlich auch ein Ergebnis einer jahrelangen und subtilen russischen Desinformationskampagne inklusive der Schaffung wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeiten. Es ist aber auch ein Ergebnis einer naiven Konzentration der europäischen Politik auf wirtschaftliche Prosperität nach der Ausrufung des "Endes der Geschichte" in den 1990ern und einer weitgehenden Vernachlässigung einer Kultur des strategischen Denkens.

Der Glaube, mit dem Verschwinden der Hauptbedrohung durch den Zerfall des Warschauer Paktes und der Sowjetunion wäre jegliche militärische Bedrohung für Westeuropa undenkbar geworden, hat sich spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine als gefährlicher Irrtum herausgestellt. Dass ein Irrtum Grundlage konkreter politischer Entscheidungen bildet, wirft kein gutes Licht auf die europäischen Regierungen der letzten Jahrzehnte und mag zum schleichenden Vertrauensverlust bei den Bevölkerungen beigetragen haben. Und die aktuellen Versuche, diesen Irrtum zu beheben, offenbaren die Defizite, die die Jahrzehnte strategischer Unkultur hinterlassen haben.

Westeuropa könnte keinen Krieg führen

Da sind zunächst die ganz manifesten, materiellen und organisatorischen Mängel: Erst durch den Bedarf in der Unterstützung der Ukraine wurde in erschreckender Deutlichkeit klar, dass Westeuropa einem über längere Zeit zu führenden Verteidigungskrieg nicht gewachsen wäre. Moderne Waffensysteme sind nur in verhältnismäßig geringer Anzahl einsatzbereit, die Produktionskapazitäten der erheblich geschrumpften Rüstungsindustrie kaum in der Lage, einen für den Bedarf der Ukraine ausreichenden Nachschub an Munition sicherzustellen. Eine Erhöhung der Kapazitäten scheint unangenehm lange zu dauern, manche Länder sind gar nicht in der Lage (und/oder bereit), Ukraine mit modernen Rüstungsgütern zu unterstützen.

Schwerer noch als die materiellen Mängel als Folge des strategischen Irrtums der letzten Jahrzehnte wiegen allerdings die Schwächen der politischen Eliten im strategischen Denken, die man als Strategieunfähigkeit bezeichnen könnte. Nicht nur in Österreich wurde offenbar Sicherheits-, vor allem aber die Verteidigungspolitik vornehmlich als lästiges, aber notwendiges Übel betrachtet, nicht selten im Sinne eines Übungsfeldes für Politiker aus der zweiten Reihe, wo man sich bei einem gewissen Erfolg (der bereits in der Vermeidung von Skandalen als gegeben gesehen wurde) für höhere Aufgaben empfehlen, meist aber sang- und klanglos auch wieder im zweiten Glied verschwinden konnte.

Die Folgen zeigen sich nach wie vor in der eklatanten Entscheidungsschwäche der europäischen Politik bei der Unterstützung der Ukraine. Vor allem die zu spät erfolgte Lieferung westlicher Panzer an die Ukraine war maßgebend für eine Verzögerung der ukrainischen Gegenoffensive und damit den Zeitgewinn für die russischen Streitkräfte zu einem massiven Ausbau ihrer Verteidigungsstellungen gewesen.

Ukrainische Offensive "mühsam und unter hohem Blutzoll"

Dass diese Gegenoffensive unter hämischen Begleitgeräuschen russlandfreundlicher Kreise in Westeuropa mühsam und unter hohem Blutzoll verläuft, ist nicht zuletzt diesen Fakten und der Tatsache geschuldet, dass sie wegen der westlichen Entscheidungsschwäche weitgehend ohne Luftschirm verläuft. Und aktuell wird dies neuerlich am Beispiel des für die meisten Experten kaum mehr verständlichen Irrlichterns der Diskussion über eine Lieferung des deutsch-schwedischen Marschflugkörpers vom Typ "Taurus" deutlich. Es gibt eigentlich kein sachliches Argument gegen eine Lieferung: Aufgrund der Leistungsfähigkeit dieses Waffensystems würde dies für die ukrainischen Streitkräfte eine erhebliche Verbesserung ihrer Kapazitäten bedeuten.

Mittlerweile sollte ernsthaften Politiker:innen auch klar sein, dass ein in Deutschland gebautes, aber der Ukraine übergebenes Waffensystem, das von ukrainischen Soldaten eingesetzt wird, nicht als deutsches, sondern als ukrainisches System gilt. Das Vereinigte Königreich und Frankreich haben ähnliche Waffensysteme bereits an die Ukraine geliefert. Und trotzdem wird in Deutschland eine mühsame und in ihren Argumenten fallweise hanebüchene Diskussion geführt, inwieweit eine derartige Lieferung politisch opportun wäre.

Die eingangs dargelegte russische Entschlossenheit, Brutalität und Rücksichtslosigkeit bilden somit einen scharfen Kontrast zur westeuropäischen Zögerlichkeit und bereits vorschwingenden Rücksichtnahme auf innere und äußere Widerstände, ob diese nun sachlich begründbar sind oder nicht. Ob mit einer derartigen politischen Entscheidungskultur die Schaffung der oben beschriebenen "russischen Welt" zu verhindern ist, werden die nächsten Jahre zeigen. Zunächst verlängert sie jedenfalls den Krieg und prolongiert das Blutvergießen.

ribbon Zusammenfassung
  • Bald sind es nun eineinhalb Jahre, dass Ukraine um sein Überleben kämpft.
  • Putins Vision einer "russischen Welt" steht ein strategisch zögerliches Westeuropa gegenüber.
  • Das hat Auswirkungen auf die ukrainische Gegenoffensive.