Karners Weltblick: Feuer am Dach in Moskau
Auch wenn die materiellen Schäden geringfügig sein mögen, der Schaden für das Ansehen der politischen und militärischen Führung Russlands ist gewaltig: In der Vorbereitungsphase der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg zählt das Zentrum Moskaus sicherlich zu den am besten gesicherten Räumen der Welt. In und über der russischen Hauptstadt wurden umfangreiche Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der Veranstaltungen und deren Vorbereitung ergriffen.
Und trotzdem gelang es einem offenbar sehr professionell agierenden Team – welcher Provenienz auch immer – zwei Drohnen in das Zentrum der russischen Staatsmacht zu lenken. Deutlicher kann wohl die Inkompetenz, vielmehr die Hilf- und damit relative Machtlosigkeit des Putin-Regimes nicht demonstriert werden. Sein Image der Stärke, im In- und Ausland gefürchtet, in der Ukraine eine "militärische Spezialoperation" mit ruhiger Hand dirigierend, ohne dass das öffentliche Leben in Russland davon besonders betroffen wäre, es ist mehr als angekratzt.
Strategisch in der Defensive
Mehr als 14 Monate nach dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine wird mehr und mehr offenkundig, was manche Beobachter damals bereits beurteilt, die meisten jedoch aufgrund einer Überschätzung der Stärke und der Möglichkeiten Russlands ausgeschlossen haben: Das Blatt hat sich gewendet, Russland befindet sich in der strategischen Defensive.
Russland ist bereits im letzten Jahr daran gescheitert, in Kiew ein Marionettenregime zu installieren. Es ist daran gescheitert, die politische Führung der Ukraine in die Knie zu zwingen und die westliche Unterstützung für das Land zu unterminieren. Es ist daran gescheitert, die ukrainische Bevölkerung durch eine Ausschaltung der kritischen Infrastruktur für deren Versorgung in die Kriegsmüdigkeit zu bomben.
Und es ist daran gescheitert, die ukrainischen Streitkräfte zu zerschlagen, im Gegenteil: Während die Ukraine offenbar dabei ist, die Vorbereitungen für eine machtvolle Gegenoffensive zur Wiedergewinnung der seit 2014 verloren gegangenen Territorien abzuschließen und in der Tiefe des russischen Dispositivs Nachschublinien und Logistikzentren angreift, richten sich die russischen Kräfte unter Einsatz von Kampfpanzern aus den 60er Jahren zur statischen Feuerunterstützung zu einer tief gestaffelten Verteidigung ein.
Wohlgemerkt, es ist natürlich klar, dass die gewaltigen russischen Ressourcen nicht vollständig erschöpft sind, dass ein Erfolg einer ukrainischen Offensive keineswegs garantiert ist und das Regime nach wie vor in seinen Bunkern an den Hebeln der Macht sitzt. Aber mit Ressourcen und Ansehen schwindet tendenziell auch seine Macht, und dies kann interne Folgen nach sich ziehen, wie es bereits jetzt auch externe Auswirkungen zeitigt.
International isoliert
Das russische Regime wurde bekanntlich nicht müde zu betonen, dass Russland in der Welt durchaus große Unterstützung genießen würde, vor allem in den Ländern des "globalen Südens". Die westliche Weltsicht, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen wäre, würde dort nicht geteilt werden. Auch im Westen selbst gab und gibt es noch immer Beobachter, die diese Sicht teilen. Aber ein Blick auf das Abstimmungsverhalten bei der jüngsten Resolution der UN-Generalversammlung vom 2. Mai, mit der u. a. der russische Überfall auf die Ukraine scharf verurteilt und Russland zum Abzug aus den besetzten Gebieten aufgefordert wurde, zeigt ein anderes Bild: Neben Russland selbst stimmten nur mehr Belarus, die Demokratische Republik Kongo, Nicaragua und Syrien dagegen.
Neben der Türkei und Kasachstan stimmten sogar Brasilien, China und Indien - mit Russland und Südafrika in der BRICS-Staatengruppe vereint - für die Resolution, mit der Reparationen für die Opfer der russischen Aggression sowie Strafverfolgung aller gefordert wird, die internationales Recht verletzt haben. Das Abstimmungsverhalten Chinas bestätigt seine umsichtigen Versuche, den Anschein einer "prorussischen Äquidistanz" zu vermeiden, wie auch das Telefonat von Staatspräsident Xi Jinping mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj bereits letzte Woche gezeigt hat.
Nun hat auch Südafrika als Gastgeberland des Gipfeltreffens der BRICS-Gruppe vom 22. bis zum 24. August in Durban klar zu verstehen gegeben, dass es als Unterzeichnerstaat des Römischen Statuts den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin vollziehen würde und damit eine Teilnahme Putins bei diesem Gipfeltreffen praktisch unmöglich gemacht.
Dies alles zeigt, wie sehr sich Russland durch seine Aggression in der Staatengemeinschaft bereits isoliert hat. Was das Regime von Wladimir Putin noch an der Macht hält, sind die durch jahrelange Repressalien und Desinformation herbeigeführte Apathie des Großteils der Bevölkerung, die durch massive Eingriffe noch stabil gehaltene Volkswirtschaft und ein Restvertrauen in eigene militärische Stärke.
Hiobsbotschaft auf Hiobsbotschaft
In dieser Situation müssen die jüngsten Berichte über eine aufgrund der Sanktionen zunehmende Verschlechterung der Wirtschaftslage inklusive eines möglichen bis zu 50-prozentigen Einbruchs der Erdgasexporte in diesem Jahr wie eine Hiobsbotschaft für das Regime klingen.
Sollten sich andere Berichte, nach denen die russische Rüstungsindustrie zunehmend Probleme hat, vor allem mit der Produktion komplexerer Waffensysteme, die bereits verfeuerten Lenkwaffen oder zerstörten Kampffahrzeuge zu ersetzen und zusätzlich eine ukrainische Gegenoffensive nennenswerte Erfolge zeitigen, könnten Drohnen auf das Kreml-Dach noch das vergleichsweise geringere Problem für Wladimir Putin sein.
Zusammenfassung
- Ob so beabsichtigt oder nicht, der nächtliche Drohnenangriff auf den Kreml stellt ein überaus anschauliches Symbol für die strategische Lage Russlands dar.
- Die Metapher vom "Feuer auf dem Dach" scheint dafür ausgesprochen zutreffend zu sein, meint Kolumnist Gerald Karner.