30 Bombenangriffe täglich auf zerstörte Stadt Awdijiwka
"Meine Seele ist hier", sagt der alte Mann in seiner Wohnung in der Nähe des Kinos. Die Explosionen haben alle Fenster weggesprengt, die Tapete hängt in Fetzen von der Wand, nur die Familienfotos sind heil geblieben. Auf dem Bett steht ein Radio und die Badewanne ist mit Konserven und Ölflaschen gefüllt. Freiwillige Helfer bringen ihm Wasser und Lebensmittel. Zum Kochen hat Grosdow einen Campingkocher.
Als die Bombenangriffe begannen, habe er sich ins Badezimmer geflüchtet und auf den Boden gepresst, sagt Grosdow. Jetzt scheint er den Lärm des Krieges, das Rumpeln der Panzer, nicht mehr zu beachten. "Ich bin nicht ängstlich, ich habe Ruhe gefunden", erzählt er den Journalisten der Nachrichtenagentur AFP.
Es ist bereits die zweite Begegnung mit Grosdow. Beim ersten Mal, im April, war der Rentner nach dem Einkaufen in einen Krater gerutscht und brauchte die Hilfe der Reporter. "Ich ging die Allee hinauf und dachte, ich würde schnell um den Bomben- oder Granatenkrater herumgehen", erinnerte er sich. "Dann bin ich gestolpert und reingefallen. Ich versuchte, wieder herauszukommen, aber die Erde war locker und rutschte unter meinem Gewicht weg."
1719 der einst 30.000 Einwohner harren noch in der Kleinstadt 13 Kilometer nördlich von Donezk aus - ohne Wasser und Strom. "Etwa 60 Prozent sind älter als 65 Jahre", sagte Vitali Barabatsch, der Leiter der Militärverwaltung. Kein Haus sei mehr intakt, im Schnitt griffen die Russen Awdijiwka 30 Mal täglich an. "In den vergangenen Monaten gab es keinen Tag ohne Luft- oder Raketenangriffe", sagt Barabatsch.
Grosdow wagt sich dennoch auf die Straße. Er stützt sich auf seinen Stock und hält sich an die Wege, die er gut kennt. Grosdow ist halbblind, das macht die Spaziergänge noch gefährlicher. Schon vor dem russischen Angriff war sein Leben hart: Grosdow war noch ein Baby, als seine Mutter getötet wurde, er wuchs in einem Waisenhaus in Donezk auf. Später arbeitete er in der Kokerei von Awdijiwka. Sein Sohn wurde drogenabhängig und gewalttätig. Einmal schlug er den Vater heftig auf den Kopf. Seither kann Grosdow auf einem Auge nichts mehr sehen.
Im Erdgeschoss des Hauses ist eine Granate in der Fassade stecken geblieben. Grosdows Nachbar Vitali Semin sitzt im Keller und schnitzt im Schein einer Fackel Holztiere. "Das lenkt von den Gedanken ab, die uns nicht loslassen: an die Menschen, die Ukraine, warum es keinen Frieden gibt", sagt der 63-Jährige.
Wichtigster Zufluchtsort für die letzten Bewohner ist ein unterirdischer Schutzraum, in dem Freiwillige Essen und warme Getränke anbieten. Außerdem gibt es WLAN, einen Fernseher und Strom fürs Handy. Etwa zwanzig Menschen sind gerade dort. Die meisten tragen Kopfhörer und sind mit ihrem Smartphone oder Tablet beschäftigt.
Der 65-jährige Pawel schaut Nachrichten. Ein Bügel seiner Brille ist abgebrochen. Der Schutzraum sei der einzige Ort, an dem er sich ein wenig entspannen könne, sagt er. "Zu Hause fragt man sich, ob eine Bombe einschlagen wird oder nicht - es ist wie beim russischen Roulette. Manchmal bin ich verzweifelt." Seine Familie ist längst geflohen, auch er möchte nichts lieber als das trostlose Awdijiwka verlassen. Aber Pawel glaubt, bleiben zu müssen - um sein Haus vor Plünderern zu schützen.
Zusammenfassung
- "Egal was passiert, ich gehe nicht weg", sagt Viktor Grosdow.
- Obwohl die Stadt im Südosten der Ukraine schon fast vollständig zerstört ist, bombardieren die Russen sie weiter täglich.
- Kein Haus sei mehr intakt, im Schnitt griffen die Russen Awdijiwka 30 Mal täglich an.
- Im Erdgeschoss des Hauses ist eine Granate in der Fassade stecken geblieben.
- Grosdows Nachbar Vitali Semin sitzt im Keller und schnitzt im Schein einer Fackel Holztiere.