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Schauspielhaus Wien bringt "Bühnenbeschimpfung" zum Neustart

Welche Macht hat das Theater als Institution im 21. Jahrhundert? Und wie wirkt sich diese Macht auf die Schauspielerinnen und Schauspieler, das Publikum und das Gebäude aus? Diesen Fragen geht die seit 2012 in Berlin lebende israelische Dramatikerin Sivan Ben Yishai in ihrer "Bühnenbeschimpfung" nach, mit der das Schauspielhaus Wien unter seiner neuen Leitung am Freitag die Saison eröffnete: Ein chaotisch-kritischer, liebevoll-lustiger Abend als reflektierte Liebeserklärung.

Einen Fokus auf das "Partikulare" und die "Poetik der Details" hat das neue Leitungsquartett Marie Bues, Martina Grohmann, Tobias Herzberg und Mazlum Nergiz für seine gemeinsame Arbeit am Haus ausgerufen, um "große Entwicklungen und Debatten auf eine spezifische Weise zu erzählen", wie es vor wenigen Wochen bei der Programmvorstellung hieß. Um die eigene reflektierte und zugleich partikulare Herangehensweise zu unterstreichen, bot sich die im Vorjahr am Berliner Gorki Theater uraufgeführte und von der Zeitschrift "Theater heute" zum "Stück des Jahres 2023" gewählte "Bühnenbeschimpfung" also mehr als an. Auch der demokratische Zugang spiegelt sich bereits am Besetzungszettel wider - die drei Akte des Stücks wurden von drei Personen inszeniert. Neben Bures und Herzberg ist auch der Künstler, Autor, Videograf und Performer Niko Eleftheriadis im Regieteam gelistet.

Eine Rückkehr zum Alten gab es bei der Saisoneröffnung indes auf der physischen Ebene: Nachdem unter Tomas Schweigen die Zuschauertribüne zuletzt auf der Bühne stand und die Bühne im Zuschauerraum aufgebaut war, ist nun wieder alles beim Alten, wodurch auch die Galerie wieder für Sitzplätze genutzt werden kann. Wie auch in Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" steht das tatsächliche Beschimpfen selbst auch bei Sivan Ben Yishai im Hintergrund. Vielmehr gelingt ihr ein ironischer, um Nähe und Distanz ringender Text über das Theater als politischer Raum, als Spielplatz und "Safe Space". Nicht umsonst lautet der Untertitel des Stücks "(Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)".

Zunächst stehen die Schauspieler selbst im Fokus: Unter dem Titel "Der Körper als Institution" sprechen Lydia Lehmann, Kaspar Locher, Sophia Löffler, Ursula Reiter, Tamara Semzov und Maximilian Thienen vor einer leicht zerknüllten Papier-Rückwand unter einem schwebenden Kubus (Bühne: Shahrzad Rahmani) im Chor, der in der dritten Person über den Schauspielberuf lamentiert. "Sie sind den Themen der Institution verpflichtet, mit den Problemen der Institution beschäftigt, sie tragen immerzu Pullis mit dem Logo der Institution, sind besorgt um deren Zukunft, bewegt von ihren Dramen", heißt es da etwa - und natürlich trägt das Ensemble Overalls mit Logofragmenten (Kostüme: Sigi Colpe).

Doch wie steht es um die Loyalität zur Institution, wenn die Individualität Abend für Abend beschnitten wird? Wenn selbst entwickelte Projekte abgesagt werden und man nicht hinter jenem Text stehen kann, der allabendlich aufgesagt werden muss? Eine Antwort finden die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler in dieser ersten halben Stunde nicht. Fest steht: Auch sie würden manchmal gern alles liegen und stehen lassen und ein Glas Wein trinken gehen. Das ist auch der Anknüpfungspunkt zum zweiten Teil des Abends, der sich unter dem Titel "Der Theaterabend als Institution" mit dem Publikum auseinandersetzt und musikalisch von Scharmien Zandi am Klavier begleitet wird: Der schwebende Kubus steht nun als Raum im Raum auf der Bühne, gespielt wird dann aber hauptsächlich vor einem weißen Vorhang direkt im Zuschauerraum, wo das Ensemble mit grotesken Filzperücken direkt in den Reihen Platz nimmt und sich nicht nur immer wieder laut fragt, wie lang das Stück noch dauert - "eine Stunde" -, sondern auch zugibt, dass man sich zu Beginn der Vorstellung eigentlich schon wieder auf den Heimweg freut.

Und überhaupt: Ist Theater heutzutage nicht eigentlich eine politisch unkorrekte Platzverschwendung? "Es gibt Millionen Quadratmeter Theater auf der ganzen Welt, und wisst Ihr was? So viele Menschen haben keinen Schlafplatz, so vielen Menschen wird das Asyl verweigert, weil es keine Unterkunft für sie gibt!", heißt es in abgewandelter Form gleich mehrmals. Und so gleitet man nach der kurzen Pause in den dritten Teil des Abends, der sich ganz dem Theaterraum selbst widmet. Unter dem Titel "Die Zukunft auf einem angrenzenden Areal wiedererrichten" steht Ursula Reiter allein im von Neonröhren gesäumten Gerippe des entblätterten Kubus, um in der Ich-Form von einem Theater zu berichten, das nach langem Hin und Her (Abriss? Erhalt? Neubau?) eingezäunt und vergessen wurde. Während sie von den sich langsam in ihren Räumlichkeiten ausbreitenden Pflanzen und Tieren erzählt, läuft im Hintergrund eine Schwarz-weiß-Projektion eines Rundgangs durch das leere Schauspielhaus. Es ist ein dystopisches Ende, an dem das Theater für den Menschen ausgedient hat. Lang anhaltender Jubel beendete den Abend, der angetreten ist, um ein solches Horrorszenario zu verhindern ...

(S E R V I C E - "Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)" von Sivan Ben Yishai, übersetzt von Maren Kames. Österreichische Erstaufführung am Schauspielhaus Wien. Regie: Marie Bues, Niko Eleftheriadis und Tobias Herzberg. Mit Lydia Lehmann, Kaspar Locher, Sophia Löffler, Ursula Reiter, Tamara Semzov und Maximilian Thienen. Bühne: Shahrzad Rahmani, Kostüme: Sigi Colpe, Live-Musik und Sounddesign: Scharmien Zandi, Video: Niko Eleftheriadis. Weitere Termine: 7., 14., 16., 17., 18., 23., 24. und 25. November, jeweils um 20 Uhr. Am 11. November findet um 15 Uhr eine Nachmittagsvorstellung mit kostenloser Kinderbetreuung statt (künftig auch bei weiteren Produktionen). Infos und Karten unter www.schauspielhaus.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Wie auch in Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" steht das tatsächliche Beschimpfen selbst auch bei Sivan Ben Yishai im Hintergrund.