Nesbø lässt gruseln und wird selbst bei Horror "zum Weichei"
In seiner selbst verfassten Online-Biografie berichtet der 63-Jährige, dass er schon als Bub ältere Kinder mit Geistergeschichten unterhielt. "Ja, ich bin dorthin zurückgegangen, womit ich begonnen habe", schmunzelt Nesbø, der am Donnerstag zur "Buch Wien" anreiste, wo er am heutigen Freitagvormittag noch eine Lesung absolviert. "Wenn unsere Familie zusammenkam, war ich immer das jüngste Kind und stolz, wenn ältere von mir Geistergeschichten hören wollten. Viele Jahre dachte ich, weil ich ein großartiger Erzähler wäre. Aber irgendwann haben sie mir verraten, dass sie die Angst in meiner Stimme heraushören konnten - das amüsierte sie. Aber ich mag meine Geistergeschichten!"
Es hat jedoch einige Zeit gedauert, bis der frühere Fußballer und Musiker seiner Leserschaft eine solche Story in gebundener Form vorlegte. Umso mehr Spaß machte es Nesbø mit Klischees zu spielen und kleine Hommagen einzubauen. Der Wagen eines FBI-Agenten in der Story etwa sei "genau das Auto" aus dem Kult-Zombiefilm "Nacht der lebenden Toten" von George A. Romero. Dabei hat er den Klassiker nur einmal ganz gesehen: "Weil ich mich so gefürchtet habe. Horrorfilme erschrecken mich zu Tode. Ich empfinde zu ihnen eine Hassliebe."
Gleich zu Beginn von "Das Nachthaus" wird eine Figur durch einen Telefonhörer gesaugt. Die Idee zu dieser Szene, der Initialzündung für den Roman, geht in Nesbøs Kindheit zurück: "Nur einmal habe ich bei einem Streich-Anruf aus einer Telefonzelle mitgemacht. Da war ein Mann am Apparat, dessen sehr tiefe, ruhige Stimme mir furchtbare Angst einflößte. Der Streich ging also nach hinten los - und in 'Das Nachthaus' wirklich sehr nach hinten. Mein Arbeitstitel für das Buch war 'Das fleischfressende Telefon'."
Die Geschichte beginnt in der Tradition der amerikanischen Horrorfilme, der Horrorromane von Stephen King oder der Fantasy-Horror-TV-Serie"Stranger Things, wie Nesbø selbst analysiert. "Aber ich breche dann mit Erwartungen an diese Genres und schicke die Leser in unerwartete Richtungen", fügt er hinzu. Man darf bei "Das Nachthaus" durchaus - "so wie bei den Filmen von John Carpenter" (Nesbø) - auch schmunzeln. Manche Stellen "erlauben dem Publikum zu lachen. Aber um die Ecke lauert schon der nächste Schrecken", betont der Fan der Fußballklubs Molde und Tottenham Hotspurs.
Mit dem neuen Roman mag Nesbø manche Harry-Hole-Fans überraschen. Aber auch früher versuchte er sich an anderen Themen, Stilen und Genres, es seien das großartige Crime-Drama "Ihr Königreich", die Hardboild-Reihe "Blood On The Snow" oder die "Doktor Proktor"-Kinderbücher erwähnt. "Für das Publikum ist es nicht interessant, ob ich vielseitig bin oder nicht", meint Nesbø. "Ich bin nicht angetan von der Idee, meine Leser könnten Jo-Nesbø-Leser sein. Ich will, dass sie Harry-Hole-Leser sind. Oder 'Königreich'-Leser. Aber manchmal braucht man eine Pause von einer Idee oder Figur. Ich strebe keine Vielfältigkeit an, die ergibt sich."
Für Kritik an expliziter Gewalt in "Der Leopard", dem achten Band der Harry-Hole-Serie, zeigte Nesbø im Rückblick durchaus Verständnis. Was hält er davon, dass Werke umgeschrieben werden, weil sie nicht mehr aktuellen Wertvorstellungen entsprechen? "Ich bin wie jeder andere vom Zeitgeist beeinflusst", antwortet der Autor nach kurzer Denkpause. "Ich habe im Lauf der Jahre einige meiner Meinungen geändert. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Homosexualität ganz anders betrachtet wurde als heute. Daher habe ich auch meine Einstellung dazu geändert. Wir müssen akzeptieren, dass wir Kinder unserer Zeit sind."
Heute wird über Cancel-Culture und Wokeness diskutiert. "Wokeness hat gute Intentionen, aber das Resultat ist Zensur", argumentiert Nesbø. "Oft steckt eine gute Intention dahinter, aber wenn sie die Kunst diktiert, bewegen wir uns in die falsche Richtung. Ich unterstütze viele Ansichten von Menschen mit wachsamen Bewusstsein, aber ich stimme nicht unbedingt mit deren Mittel überein, um ans Ziel zu kommen."
(Das Gespräch führte Wolfgang Hauptmann/APA)
(S E R V I C E - Jo Nesbø: "Das Nachthaus", aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob, Ullstein Verlag, gebundene Ausgabe, 288 Seiten, 26,50 Euro)
Zusammenfassung
- Jo Nesbø hat mit seinen Kriminalromanen um Kommissar Harry Hole ein riesen Publikum erobert.
- Dann und wann unternimmt der Autor Ausflüge in andere Genres.
- Das passiere unterbewusst: Harry sei nämlich "ein intensiver Charakter, mit dem ich gerne das Wochenende verbringe, den ich aber am Montag nicht zurückrufen würde," sagt der Norweger im APA-Interview.
- "Wokeness hat gute Intentionen, aber das Resultat ist Zensur", argumentiert Nesbø.