"Bullet Time" im Volkstheater: Die gefrorene Zeit im Bild
Im Zentrum steht dabei die Gerichtsverhandlung gegen Muybridge (Frank Genser) nach der Tat. Ist das visuelle Genie, das mit seinen ersten Bildern eines galoppierenden Pferdes als früher Pionier des Bewegtbildes gilt, nicht mehr Herr seiner Sinne? Wie viel Wahnsinn steckt im eigenbrötlerischen Sonderling? Seine Anwältin Victoria Pendergast (Evi Kehrstephan) kämpft für ihren zauseligen Mandanten, während Staatsanwalt Dennis Spencer (Fabian Reichenbach) mittels Zeugen den Angeklagten an den Galgen bringen möchte.
Voges transformiert dieses altbekannte Setting in einen Livefilm. Bisweilen wird die Gerichtsverhandlung auf der Vorderbühne als Film in der darüber thronenden Leinwand gedoppelt, bisweilen werden einzelne Erzählungen von Zeugen als Flashbacks im hinteren Bereich nachgespielt. Die Präzision der choreografischen Wechsel der Agierenden, das stets die richtige Einstellung findende Kamerateam, sind schlicht beeindruckend und zeugen von technischer Meisterschaft. Gespickt mit ironischen Zitaten wie Trickblenden, erinnert das entstehende Laufbild dabei stilistisch immer wieder an das in sich bereits referenzielle Kino Quentin Tarantinos.
Einzig die markant-theatrale Diktion des Ensembles steht der friktionsfreien Transponierung der Bühnenwelt in den Kinomodus entgegen. Die große Dichotomie des Abends besteht jedoch weniger im Kontrast aus Film und Theaterspiel, denn in der Doppelgleisigkeit aus philosophischer Betrachtung der Fotografie und der konventionellen Situation der Gerichtsverhandlung. Überlegungen zur Veränderung der Weltwahrnehmung durch die Möglichkeit, Zeit im Bild einzufrieren, den Moment zu konservieren, werden bisweilen in genauer Bildexegese durchexerziert, die Wirkmacht der Bilder letztlich bis hinauf zum gescheiterten Attentat auf Donald Trump analysiert. Schließlich erwies sich bereits zu Zeiten Muybridges Kalifornien als Brutstätte der weltweiten Veränderungen, finanzierte doch der Tycoon Leland Stanford die Experimente des Innovators, um durch die genaue Analyse der Bewegung von Pferden einen Zuchtvorteil gegenüber der Konkurrenz zu haben. 1878 gelang Muybridge dann das technisch zuvor Unmögliche.
Diesen kulturreflektierenden Szenen gegenüber stehen allerdings die langen Gerichtsszenen, die in ihrer Dynamik eher an "Matlock" denn rasantes Bewegtbild erinnern. Auch wenn Lavinia Nowak eine beeindruckend emanzipierte Ehefrau Flora oder Evi Kehrstephan eine ebenso charmante wie toughe Anwältin ist, hätte der beinahe dreistündige Abend vor allem in diesem zweiten Strang deutliche Straffung vonnöten. Zu althergebracht erscheinen hier die Beziehungskonstellationen, Spielsituationen, zu groß erscheint der Kontrast zu den inspirierenderen Reflexionen. "Ich bin großgeworden in einer langsamen Welt", sagt Muybridge an einer Stelle. Dieses Gefühl kann das "Bullet Time"-Publikum an so mancher Stelle gut nachvollziehen.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - "Bullet Time. Die Geburt des Kinos aus dem Geiste eines Mörders" von Alexander Kerlin im Volkstheater, Arthur-Schnitzler-Platz 1, 1070 Wien. Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüm: Mona Ulrich, Soundtrack: Paul Wallfisch, Director of Photography: Max Hammel, Lightdesign und Color Grading: Voxi Bärenklau. Mit Eadweard Muybridge - Frank Genser, Flora Muybridge - Lavinia Nowak, Sarah Louisa - Anke Zillich, Victoria Pendergast - Evi Kehrstephan, Dennis Spencer - Fabian Reichenbach, Leland Stanford - Uwe Rohbeck, Harry Larkyns - Elias Eilinghoff, William H. Rulofson - Uwe Schmieder, Helen Edwards - Claudia Sabitzer, Axel Ellis - Christoph Schüchner, Judge Palmer - Anke Zillich, Trinity Mills - Claudia Sabitzer, George Wulf - Christoph Schüchner, James McArthur - Uwe Rohbeck, Bardame - Anke Zillich. Weitere Aufführungen am 15. und 22. September, am 4. Oktober, am 8. und 28. November, am 18. Dezember sowie am 3. Mai 2025. www.volkstheater.at/produktion/1993067/bullet-time/)
Zusammenfassung
- Am Samstag fand die Uraufführung von 'Bullet Time' im Wiener Volkstheater statt, inszeniert von Kay Voges.
- Das Stück thematisiert die Janusköpfigkeit des Fotopioniers Eadweard Muybridge, der einen Liebhaber seiner Frau tötete.
- Die fast dreistündige Aufführung kombiniert Livefilm und Theater und beeindruckt durch technische Meisterschaft, erinnert stilistisch an Quentin Tarantino.