Schutzzone am Keplerplatz: Wie eine Stadt ihre Probleme verdrängt
"Hast du oder suchst du?", fragt ein blonder Jugendlicher in hellblauem Kapuzenpulli und modisch zerrissenen Jeans. Ganz alleine und etwas verloren steht er an einem nebeligen Dienstagvormittag am Keplerplatz in Wien-Favoriten. Er ist heute der Einzige, der dort Drogen verkaufen will. Auf die Frage, ob sich durch die polizeiliche Schutzzone etwas verändert hätte, antwortet er grinsend: "Ich finde nicht." Doch auch mit dieser Ansicht ist er heute alleine.
Lange kann er sein Glück nicht versuchen. Der Keplerplatz liegt an der belebten Favoritenstraße, die Pfarrkirche St. Johann, umgangssprachlich Johanneskirche, markiert gewissermaßen seinen Mittelpunkt. An der Ecke der Kirche stehen die Alteingesessenen. Sie beäugen den Jugendlichen skeptisch, sprechen ihn an. Der Jugendliche haut lieber ab.
Die Alteingesessenen sind eine Gruppe von rund fünf Personen. Sie kommen täglich auf den Platz, sagen sie. Schon vormittags trinken sie Schnaps aus kleinen Flaschen und Bier. So schlagen sie ihre Zeit tot. Sie kennen hier gefühlt jeden, grüßen Vorbeigehende. Immer wieder kommt einer auf einen Plausch vorbei. Lautstark wird am Telefon besprochen, wer heute eine Nudel-Box besorgt.
Täglich am Keplerplatz
"Jetzt sind weniger Dealer da", sagt einer der Gruppe. Seitdem der Keplerplatz von Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) und Polizeipräsident Gerhard Pürstl zur Schutzzone erklärt worden ist, gebe es weniger Gewalt, weniger Streitereien, erklärt der Mann. Früher habe es am Platz Messerstechereien gegeben. Nun habe sich vieles zum Besseren geändert.
Er trägt eine Mütze in Farben der Rastafaris, bezeichnet sich als Serben, der in Favoriten geboren wurde. Er sei selbst "Konsument", sagt er. Er findet es aber gut, dass es ruhiger geworden ist. Seit 20 Jahren komme er täglich zum Keplerplatz, auch wenn er jetzt im dritten Bezirk wohne. Man kenne sich hier, könne über "die Probleme" sprechen, man helfe sich gegenseitig.
Die Polizei hat an Laternenmasten und an den Schildern, die das Ballspielen auf den Rasenflächen verbieten, Zetteln befestig, die die Schutzzone ankündigen. Die Gruppe hat sich das nicht so genau durchgelesen. Sie weiß aber, dass die Polizei Menschen vom Platz verweisen kann und die Strafen hoch seien, sollte man dagegen verstoßen. Sogar Haftstrafen würden bei Wiederholung drohen.
Die Schutzzone gilt rund um die Uhr und reicht bis zu 150 Meter um den öffentlichen Spielplatz und Park am Keplerplatz. Darin darf die Polizei verdächtige Personen wegweisen. Wer nach einer Wegweisung den Schutzbereich betritt, begeht eine Verwaltungsübertretung und kann tatsächlich mit einer Geldstrafe bis zu 1.000 Euro, im Wiederholungsfall mit bis zu 4.600 Euro oder einer Ersatzfreiheitsstrafe von bis zu vier Wochen bestraft werden.
79 Betretungsverbote
Pürstl begründete die Schutzzone bei der Errichtung Ende Oktober mit den Worten: Die Drogenszene sei "relativ widerstandsfähig gegen die polizeilichen Maßnahmen". Mit Dutzenden Festnahmen und Hausdurchsuchungen habe man zunächst "algerische Tätergruppen" verjagt. Sie seien aber schnell von syrischen, afghanischen und iranischen Dealern ersetzt worden. Nun wolle man auch diese Szene "zerschlagen".
79 Betretungsverbote wurden seit Errichtung der Schutzzone ausgesprochen, sieben Anzeigen erfolgten, weil Personen trotz Betretungsverbotes wiederkamen. Weiters seien seit Ende Oktober "Delikte im Suchmittelbereich" und "szenetypische Begleiterscheinungen" wie Körperverletzungen angezeigt worden, teilt die Polizei auf Anfrage von PULS 24 mit.
Eine Freundin der Gruppe bei der Kirche habe schon für ein Monat Platzverbot bekommen, erzählen die Übriggebliebenen. Sie habe einen Joint geraucht und sei "frech" zu den Polizisten gewesen. Sie traue sich nun nicht mehr zu kommen. Ansonsten begrüßen sie die Schutzzone aber. Die Polizei wisse schon, wen sie wegschicken müsse und wer bleiben dürfe, sagen sie. Nun würden sogar wieder Kinder am Spielplatz spielen.
Das bestätigt auch Brigitte, die Blumenhändlerin am Keplerplatz. Für ihren Stand mussten schon vor längerer Zeit Bänke weichen, auf denen sich früher Wohnungslose und Suchtkranke trafen. "Unsere Polizei ist sowieso ein Wahnsinn", sagt sie, während sie ihre Adventskränze schichtet. Sie meint das positiv. Denn seitdem es die Schutzzone gibt, müsse sich sie nicht mehr so viel Angst haben. Die Polizei und ihre Hunde hätten die Dealer vertrieben.
Ein voller Erfolg?
Die Schutzzone also ein voller Erfolg? Für den Keplerplatz ja, sind sich die Blumenhändlerin und die Gruppe aus dem Park einig. Sie sind aber auch überzeugt: Die dubiosen Dealer sind jetzt halt woanders hingegangen. Laut Brigitte Richtung Hauptbahnhof.
Probleme "werden nur verschoben - von einem Ort zum anderen", sagt auch Christoph Stoik, Sozialraumexperte und Professor für soziale Arbeit an der FH Campus Wien, im Gespräch mit PULS 24. Hohe Geldstrafen gegen Wohnungslose seien "zynisch", sagt er - und auch Drogenkonsum und -beschaffung seien "Ausdrücke von Armut". Wohlhabendere Konsumenten würden das eben nicht in der Öffentlichkeit tun.
Es gebe aber anscheinend die "politische Entscheidung", die Szene in Bewegung zu halten. Für Sozialarbeiter sei das "nicht günstig". Sie würden Hilfsbedürftige nicht mehr so leicht auffinden und beraten können. Ein Phänomen, das sich auch schon beim Alkoholverbot am Praterstern oder einst am Karlsplatz beobachten ließ, so der Professor. Dass nun der Keplerplatz zum sogenannten Hotspot wurde, sei nur eine Folge von vorangegangenen Verdrängungen - so wurde erst vor kurzem am Reumannplatz eine Videoüberwachung eingeführt.
Vom "Wohnzimmer" vertrieben
"Dabei ginge es um die Frage, wie wir mit gesellschaftlichen Problemen umgehen", sagt Stoik. Urbane Orte seien für verschiedene Szenen wie Suchtkranke oder Wohnungslose gut geeignet. Es gebe Versorgung und soziale Netzwerke. Der öffentliche Raum sei für diese Menschen "wie ein Wohnzimmer". Und dort werden in Städten eben soziale Probleme sichtbar. Verdrängt man Betroffene an weniger urbane Orte, führt das oft zu noch mehr Konflikten - in Wohngebieten gibt es noch weniger Verständnis für sie.
Entgegenwirken könnte man laut dem Experten durch weniger strenge Zugänge zu Sozialleistungen, billigere Mieten und Konsumräume, wo Suchtkranke geschützt wären. Soziale Probleme werden durch Schutz - und Verbotszonen nicht gelöst, ist er sich sicher.
Dass sich die Situation an Keplerplatz und Praterstern geändert hat, bestätigt auch Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, der auch für "sam", die mobile soziale Arbeit vor Ort, zuständig ist. "Veränderungen im Aufenthalt marginalisierter Menschen gibt es ständig und können sehr unterschiedliche Gründe haben." Auch Pandemie und Teuerung würden dazu beitragen, sagt er.
Um zu sagen, wie sich die Schutzzone am Keplerplatz auf die soziale Arbeit auswirke, sei es noch zu früh. Das "sam"-Team bemerke aber einen Rückgang von Drogenhandel. "Marginalisierte Menschen" würden den Platz aber nach wie vor nutzen, so Lochner. Er spricht von finanzschwachen, alkoholkranken Menschen. Obdachlosigkeit, Strafen, der Wunsch nach Entzug und Unterstützung bei Behördengängen seien dort die häufigsten Anliegen. Dazu kommt nun die Aufklärung wegen der verhängten Schutzzone.
Menschen abholen, wo sie sich befinden
"Aufgabe der sozialen Arbeit ist es, auf die geänderten Bedingungen zu reagieren und Menschen dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden", so habe man auch am Praterstern reagiert und werde das, wenn nötig, auch am Keplerplatz tun.
Von den Problemen der Gruppe im Park, von der Schutzzone, merkt man nur wenige Meter weiter, auf der Favoritenstraße wenig. Politik und Polizei scheinen ihr Ziel vorerst erreicht zu haben. Dort herrscht vorweihnachtliches Treiben. Menschen gehen einkaufen, vor der Kirche steht ein Christbaum. Brigitte verkauft ihre Adventskränze.
"Natürlich gehen die woanders hin", sagt der Mann mit Rastamütze über die Dealer. Noch wisse man aber noch nicht, an welchem Platz die Probleme demnächst auftauchen werden. Am Dienstagvormittag ist jedenfalls kein Polizist mehr zu sehen, am Tag davor seien sie nur noch zweimal dagewesen, weiß der Mann.
Zusammenfassung
- Schutzzone am Keplerplatz, Videoüberwachung am Reumannplatz, Alkoholverbot am Praterstern.
- Auf den ersten Blick scheinen die Maßnahmen zu wirken. Die Probleme verschwinden dadurch aber nicht.