Gerald Karner WeltblickPULS 24

Karners Weltblick: Dammbruch

Die Katastrophe nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat biblische Ausmaße. So steht zu hoffen, dass die Schrecksekunde der Welt endet und die Ukraine rasch jene Unterstützung erhält, die sie zur Bewältigung dieser Katastrophe benötigt, meint Kolumnist Gerald Karner.

Die Schrecksekunde der Welt dauert lange, zu lange. In der südlichen Ukraine entwickelt sich nach der Sprengung des Staudammes von Kachowka eben eine Katastrophe biblischen Ausmaßes mit dem Potenzial einer weiteren Eskalation, und die ukrainischen Hilfskräfte sind nach wie vor weitgehend auf sich allein gestellt.

Von großangelegten internationalen Hilfsaktionen zeigt sich aktuell noch keine Spur. Die Gründe dafür liegen nicht nur in einer langen Schrecksekunde, sondern hauptsächlich daran, dass der von der Flutkatastrophe betroffene Raum Kriegsgebiet ist. Dies dürfte von den Urhebern, die Evakuierungs- und Rettungsaktionen auch noch mit Artillerie beschießen, wohlkalkuliert sein.

Katastrophe und Verbrechen

Um das Ausmaß der Katastrophe - man kann durchaus auch von jenem des Verbrechens sprechen – begreifen zu können, muss man zunächst die Dimension des Stausees betrachten: Er ist mit 2155 km² beinahe so groß wie das Bundesland Vorarlberg und enthielt 18,2 Milliarden m³ Wasser. Der Damm sollte die Bewässerung in der Südukraine und auf der Krim sicherstellen und damit die Voraussetzungen für die Landwirtschaft in der Südukraine verbessern. Das Wasserkraftwerk deckte einen erheblichen Teil des Bedarfs an elektrischer Energie in diesem Raum, der Stausee diente nicht zuletzt der Versorgung des Wasserreservoirs, aus dem die Kühlung der Anlagen des Atomkraftwerks Saporischschja bewerkstelligt wird.

Neben den unmittelbaren Auswirkungen in Form der humanitären Katastrophe fallen alle diese Funktionen des Staudamms für die nähere Zukunft jedenfalls aus. Zumindest in diesem Jahr droht in diesem Raum ein kompletter Ernteausfall, was die ohnehin problematische Lage für die ukrainischen Getreideexporte zusätzlich verschärfen dürfte und potenziell auch in den Abnehmerländern des globalen Südens zu Engpässen bei der Nahrungsmittelversorgung führen kann.

Besonders dramatisch stellt sich die Lage aktuell natürlich für die unmittelbar betroffene Bevölkerung dar. Unmittelbar sollen nach ukrainischen Angaben 16.000 Menschen von den Überflutungen betroffen sein, in der Region leben etwa 100.000 Menschen, die Stadt Cherson ausgenommen. Während die Ukraine am rechten Ufer des Dnipro sich bemüht, die dort lebenden Menschen zu evakuieren, geht der russische Artilleriebeschuss unvermindert weiter. Von russischen Evakuierungsbemühungen am linken Ufer ist nichts bekannt. Sollte es Überlebende im Raum geben, so sind sie durch Fäulnis- und Fäkalkeime (die Fauna der Region dürfte der Katastrophe zur Gänze zum Opfer gefallen sein), aber auch Chemikalien und Schwermetalle aus Industriebetrieben bedroht. Nicht zuletzt geht auch von weggeschwemmten Landminen eine erhebliche Gefahr aus.

Die Urheber

Man sieht, die Urheber des Dammbruchs haben in ihrem Sinn ganze Arbeit geleistet. Das führt zur wie immer kontroversiell diskutierten Frage der Urheberschaft. Beide Seiten beschuldigen einander und finden in der jeweiligen Anhängerschaft – auch im Westen – ihre Resonanz. Dabei dürften die Dinge anhand der Fakten ziemlich klar liegen: Der Damm war in den 1950er Jahren atombombensicher gebaut worden und kann durch Beschuss von außen kaum zerstört werden. Er fiel nach dem Überfall Russlands bereits Ende Februar 2022 in russische Hände und blieb dies bis zum Kollaps.

Bereits im Laufe des Jahres 2022 wurde berichtet, dass die russischen Besatzungstruppen den Damm zur Sprengung vorbereiten würden, was im September 2022 bei der Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte im Raum Cherson zu Befürchtungen führte, dass dies bei einem ukrainischen Erfolg auch geschehen würde. Dieser beschränkte sich damals allerdings auf die Wiederinbesitznahme des rechten Ufers des Dnipro.

Drohende ukrainische Offensive als "Trigger"?

Eine machtvolle ukrainische Gegenoffensive, mit der die russischen Kräfte aus dem gesamten Raum vertrieben werden soll, bedeutet natürlich aber eine andere Dimension. Geradezu prophetisch muten dazu die Sätze der beiden Autoren Ihor Pylypenko und Daria Malchykowa in ihrem Beitrag zur Ausgabe 1-2/2023 der renommierten Zeitschrift "Osteuropa" an. Sie schreiben: "Leider besteht Grund zu der Annahme, dass Russlands Besatzungstruppen den Wasserspiegel des Kachowka-Stausees in den ersten Monaten des Jahres 2023 gezielt abgesenkt haben, um bei bestimmten Entwicklungen des Kriegsgeschehens die Staumauer zu sprengen. Es steht zu befürchten, dass dieser Moment gekommen wäre, wenn Russland zu einem vollständigen Rückzug seiner Truppen aus den Gebieten Cherson und Zaporižžja gezwungen wird."

Die aktuelle Beurteilung der militärischen Lage könnte die russischen Besatzer nunmehr veranlasst haben, diesen Schritt zu setzen, wobei in diesem Fall der Befehl dazu wohl von "ganz oben" gekommen sein müsste. Nach wie vor kann allerdings auch eine Version, nach der nur eine kontrollierte Sprengung eines Teils des Damms intendiert gewesen wäre, um die Operationen ukrainischer Spezialeinsatzkräfte auf den Dnipro-Inseln zu stören, die aber dann aufgrund früherer Beschädigungen zum vollständigen Kollaps geführt hätten. Wie auch immer, für 23:54 Uhr Ortszeit registrierte die norwegische seismologische Forschungsstiftung NORSAR jedenfalls eine seismische Signatur im Raum des Damms, die als Auslöser für den Kollaps interpretiert wurde und auf eine schwere Explosion hindeutet.

Fakten und Hoffnungen

Die Faktenlage ergibt damit ein ziemlich klares Bild, das auf eine russische Urheberschaft hinweist. Die recht konstruierten Argumente für ein Interesse der Ukraine an dieser Katastrophe weisen keinen schlüssigen politischen oder militärischen Gehalt auf. Russland kann nunmehr frei über jene Kräfte verfügen, die bislang gegen einen zwar unwahrscheinlichen, aber nicht völlig auszuschließenden Angriff der ukrainischen Streitkräfte über den Dnipro am linken Ufer bereitgehalten werden mussten. Die Last der humanitären Katastrophe und der wirtschaftlichen Folgen hat allein die Ukraine zu tragen, es ist kaum vorstellbar, dass sie sich bewusst und gezielt in eine derartige Lage bringen sollte.

So steht zu hoffen, dass die Schrecksekunde der Welt endet und die Ukraine rasch jene Unterstützung erhält, die sie zur Bewältigung dieser Katastrophe benötigt. Und es steht zu hoffen, dass die Verantwortlichen für dieses Kriegsverbrechen identifiziert und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden können. Und abschließend steht zu hoffen, dass die ukrainische Offensive zur Wiedergewinnung des verloren gegangenen Territoriums, deren Vor- bzw. Anfangsphasen wir derzeit vermutlich erleben, zu einem baldigen Ende dieses Krieges beitragen wird.

ribbon Zusammenfassung
  • Die Katastrophe nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat biblische Ausmaße.
  • So steht zu hoffen, dass die Schrecksekunde der Welt endet und die Ukraine rasch jene Unterstützung erhält, die sie zur Bewältigung dieser Katastrophe benötigt, meint Kolumnist Gerald Karner.