Demografie-Experte: Bald Betriebsaltersheim statt Betriebskindergarten
Der österreichischen Wirtschaft fehlen tausende Fachkräfte. Die Lage wird sich aufgrund mehrerer Faktoren weiter verschärfen. Was dagegen hilft? Eine Arbeitswelt, die sich mehr an den Bedürfnissen der Menschen orientiert - findet Heinrich Geissler, Experte für demografischen Wandel und gesundheitsfördernde Führung. Seit Jahrzehnten berät er Unternehmen, wie ältere Arbeitnehmer im Job gesund bleiben und dadurch auch länger arbeiten können. Länder wie Finnland zeigen, wie es anders gehen würde.
Der sich zuspitzende Fachkräftemangel habe sich schon seit Jahrzehnten angebahnt - politisch hat Österreich lange einfach nur zugeschaut. Eine Tendenz bleibt laut Geissler bisher unbeachtet: immer mehr Erwerbstätige müssen ältere Angehörige pflegen. Für sie braucht es am Arbeitsmarkt flexible Lösungen, damit sie weiter im Job bleiben.
PULS 24: Laut einer Studie der Unternehmensberatung EY haben 83 Prozent der Unternehmer Probleme, geeignete Fachkräfte zu finden. Mit der anstehenden Pensionswelle der Baby-Boomer – wie sehr wird sich die Lage zuspitzen?
Heinrich Geissler: Ja, die wird sich sehr zuspitzen, weil nicht nur die Baby-Boomer wegfallen, sondern von unten auch wenig nachkommen. Die nachkommenden Jüngeren, die potenziell erwerbstätig werden könnten, haben erstens längere Ausbildungswege und zweitens auch andere Vorstellungen, was die Arbeitswelt betrifft.
Ich habe zum Beispiel mit Personalist:innen gesprochen, die gesagt haben: "Wenn wir nicht reinschreiben, dass wir auch Teilzeit ermöglichen, bekommen wir gar keine Interessenten für Jobs." Das heißt, es wird sich sozusagen doppelt verschärfen: Einerseits durch die wegfallenden Älteren und andererseits durch noch weniger Jüngere, die zum Teil auch zur Generation der Erb:innen gehören und von daher ganz eigene Ansprüche an die Arbeitswelt stellen werden.
Die Kinder, die heute nicht geboren sind, werden in Zukunft nicht arbeiten können.
Welche Fehler hat die Politik im Hinblick auf diesen demografischen Wandel gemacht?
Die Demografie ist eine der wenigen exakten Wissenschaften. Die Kinder, die heute nicht geboren sind, werden in Zukunft nicht arbeiten können. Das hat man schon lange gewusst. Um es im europäischen Maßstab zu vergleichen: In Finnland hat man 1981 begonnen, die Demografie-Frage ernst zu nehmen.
Wir haben dieses finnische Modell Mitte der 90er nach Österreich gebracht und es hat im Prinzip einen Sozialminister gegeben, der es verstanden hat – Rudi Hundstorfer. Als er dann durch die Präsidentschaftswahl (2016, bei der er im ersten Wahlgang scheiterte, Anm.) abhanden gekommen ist, ist nicht wirklich was weiter gegangen. Man hat schon seit 30, 40 Jahren gesehen, wie sich das entwickeln wird.
Jetzt greift man zu anderen Maßnahmen. Menschen sollen länger im Berufsleben bleiben. Lässt sich ein späteres Pensionsantrittsalter langfristig überhaupt verhindern?
Meiner Ansicht nach nicht. Aber dieses spätere Pensionsantrittsalter macht nur Sinn, wenn sich die Arbeitswelt so verändert, dass man auch alt in dieser Arbeitswelt werden kann. Ich habe nichts davon, wenn die Arbeitswelt so bleibt, wie sie jetzt ist und die Leute dann frühpensioniert werden, weil sie es einfach nicht mehr schaffen.
Wir brauchen große Anpassungen der Arbeitswelt an älter werdende Belegschaften. Das predigen wir seit über 30 Jahren und da ist noch nicht viel Nennenswertes passiert.
Schauen wir zuerst auf die Maßnahmen, die schon getroffen wurden. Die Regierung schafft die geblockte Altersteilzeit schrittweise ab. Bisher konnten Männer die geblockte Variante ab 60 in Anspruch nehmen. Zu Beginn arbeitet man noch voll und dann gar nicht mehr. Also käme es einer Frühpension gleich. Arbeitsminister Kocher findet diese Variante "nicht mehr zeitgemäß" – hat er recht?
Ja und nein. Die Altersteilzeit ist eine Entlastung, aber sie entlastet nur dann, wenn ich nicht so wie in der Block-Altersteilzeit zweieinhalb Jahre voll weiterarbeite wie vorher. Damit ist der Entlastungsgedanke völlig konterkariert.
Diese Abschaffung der Block-Altersteilzeit wird allerdings kurzfristig - wenn sie schnell abgeschafft wird - den Arbeitskräftemangel weiter verschärfen, weil die Leute bisher 100 Prozent gearbeitet haben, dann nur noch 50 Prozent arbeiten.
Mein Problem mit diesen Modellen ist, dass wir mit dem Alter immer unterschiedlicher werden. Es gibt 55- oder 60-Jährige mit einer Bomben-Arbeitsfähigkeit und umgekehrt gibt es Leute im selben Job, die ihre Arbeitsfähigkeit betreffend mehr oder weniger im rehabilitativen Bereich sind.
Das heißt: Es gibt keine kollektiven Maßnahmen mehr. Und die Schwierigkeit für diese Gestaltung der Arbeitswelt für die Älteren wird sein, dass man kollektive Rahmenbedingungen schafft, die individuelle Handlungsmöglichkeiten schaffen.
Das bedeutet zum Beispiel für die Altersteilzeit, dass man sich verschiedenste Modelle überlegen kann. Aber in unserem dualistischen Schwarz-Weiß-Denken hat es immer nur die Block-Altersteilzeit und die andere Variante gegeben. Man könnte sich Staffelungen überlegen: 90/70/50/30/10 Prozent; eine Woche Arbeit, eine Woche frei; drei Monate arbeiten, drei Monate frei; Montag bis Mittwoch um 12:00 Uhr und Mittwochmittag bis Sonntag frei oder wie auch immer.
Das heißt, wir brauchen viele bunte Modelle, die einerseits auch die Anforderungen in der Arbeitswelt, gleichzeitig auf die Belastungen der Arbeitswelt Rücksicht nehmen und auf der anderen Seite auch auf die Anforderungen des Privatlebens.
Ich schätze, wir werden in Österreich so 250.000 bis 300.000 Erwerbstätige bekommen, die Angehörige pflegen. Die meisten wird es ab 50 treffen. Da kommen zusätzliche Anforderungen auf die Arbeitswelt zu, weil sie Freizeit-Blöcke brauchen, um diese Pflegetätigkeiten erfüllen zu können. Das wird erschwerend hinzukommen, weil wir insgesamt immer älter werden und dadurch der Anteil an Pflegebedürftigen zunimmt.
Ließe sich zugespitzt zusammenfassen, dass sich der Personalmangel im Gesundheits- und Pflegebereich auch auf andere Branchen auswirkt?
Ich würde von einem pflegebedingtem Facharbeitermangel sprechen, der noch hinzukommt. Wenn Führungskräfte älteren, erwerbstätigen Pflegenden nicht entgegenkommen – etwa durch Teilzeit-Angebote, flexiblere Arbeitszeiten oder weniger Nachtschichten – dann kündigen die, weil ihnen die Pflege wichtiger ist als der Betrieb. Das ist in Studien gut nachgewiesen.
Dieser pflegebedingte Facharbeiter:innenmangel wird noch gar nicht diskutiert, wird aber zunehmend relevant, wenn die Zahl der zu Pflegenden immer größer wird.
Was früher der Betriebskindergarten war, wird möglicherweise jetzt das Betriebsaltersheim werden
Gibt es schon gute Beispiele, wie mit dieser Herausforderung umgegangen wird?
Auf betrieblicher Ebene gibt es das eine oder andere gute Beispiel. Was früher der Betriebskindergarten war, wird möglicherweise jetzt das Betriebsaltersheim werden, überspitzt gesagt.
Wir wissen das aus einem großen deutschen Unternehmen: VW-Nutzfahrzeuge. Da hätten sich 65 Frauen besondere Nachtschicht-Modelle gewünscht, weil sie Pflege-Aufgaben hatten. Der Betriebsrat hat dann festgestellt: Es ist gescheiter, wir organisieren einen ambulanten Pflegedienst, der die Frauen von der Pflege in der Nacht entlastet.
Dann werden sie einerseits entlastet und können andererseits am normalen Schichtsystem teilnehmen. Solche Modelle werden wir viele, viele brauchen.
Der ÖGB hat die Entscheidung der Regierung heftig kritisiert - die geblockte Altersteilzeit sei eine "wichtige und notwendige Unterstützung" für ältere Arbeitnehmer - insbesondere für solche in einem psychisch oder körperlich anstrengenden Job. Ist das nachvollziehbar, oder will man da ein bisher geltendes Privileg bewahren?
Ich kann die Argumentation nicht nachvollziehen. Wenn es tatsächlich eine Entlastung sein soll, dann glaube ich nicht, dass die Entlastung funktioniert, wenn die Leute full-time weiterarbeiten und die Entlastung dann nach zweieinhalb Jahren eintritt.
Das mag im einen oder anderen Fall funktionieren, aber im Schnitt ist es die schlechtere Lösung. Der Idee der Altersteilzeit – eine systematische Entlastung über fünf Jahre hinweg – trägt das nicht Rechnung.
Es hat in der Gewerkschaftsbewegung immer wieder Tendenzen gegeben, sich Gesundheit abkaufen zu lassen. Man hat etwa eine Schmutz- oder Staubzulage gemacht. Und wenn dann durch Entlüftungssysteme oder Staubreinigungssysteme diese Umstände gelöst wurden, hat man sich bemüht, diese Zulagen beizubehalten, obwohl der Grund weggefallen ist. Diese Tendenz finde ich nicht gut.
Die haben natürlich null Motivation, mehr zu arbeiten, wenn ihnen das von der Pension abgezogen wird.
Was wären sinnvollere Alternativen, um ältere Menschen zu motivieren, länger im Job zu bleiben? Einige Aspekte – wie flexible Teilzeitsysteme – wurden schon genannt. Was gäbe es sonst noch für Anreize?
Was besonders schnell geht, wäre eine Abschaffung der Zuverdienstgrenze bei vorzeitiger Alterspension. Im Moment dürfen Männer zwischen 62 und 65 zur Pension nur geringfügig dazu verdienen. Die haben natürlich null Motivation, mehr zu arbeiten, wenn ihnen das von der Pension abgezogen wird. In diesem Bereich gäbe es ein gewaltiges Potenzial.
Abgesehen davon: der Anreiz müsste sein, dass man sich mit diesen Individuen beschäftigt. Wir haben in Betrieben immer wieder Arbeitsbewältigungs-Coachings vorgeschlagen. Da wird bei den Individuen nachgeschaut: Wie schaut's mit der Arbeitsbewältigungsfähigkeit aus? Wo hakt es? Und was kann man da tun?
Die Arbeitsmedizin und -psychologie kann da gut beratend tätig sein, um Arbeitsplätze individuell auf die sich verändernde Leistungsfähigkeit anzupassen. Das ist natürlich aufwendig: Aber wenn ich will, dass die Menschen weiterarbeiten können, werde ich das angehen müssen.
Ich kann auch Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich die Individuen unterschiedlich verhalten können. Zum Beispiel Entlastungstage – also zusätzliche Urlaubstage ab einem gewissen Alter.
Das rechnet sich, weil die Langzeiterkrankungen dadurch abnehmen. Es wäre sinnvoll, die Leute zu einem Zeitpunkt zu erwischen, an dem sie noch nicht gezwungen sind, aufgrund der Arbeitsbedingungen langzeiterkrankt zu werden. Man muss die Arbeit so gestalten, dass sie bis zum regulären Pensionsalter arbeiten können. Das ist eine mühsame, aber lohnende und mögliche Aufgabe.
Mit dem Alter steigt in Österreich die durchschnittliche Krankenstandsdauer deutlich an. In der Altersgruppe von 35 bis 49 ist ein durchschnittlicher Krankenstand 10,5 Tage lang – bei 50- bis 64-Jährigen liegt der Schnitt schon bei 17,2 Tagen. Muss man als Unternehmer nicht eigentlich versuchen, dass man besonders gesunde Mitarbeiter hat?
Genau das wäre eigentlich die Logik. Was sich in diesen 17 Tagen äußert, hat eine lange Vorgeschichte. Man hat schon lange vorher versäumt, präventiv tätig zu werden. Und das wäre die Aufforderung: tatsächlich viel mehr in Richtung Prävention zu tun.
Damit meine ich nicht nur den Gratis-Apfel. Ich meine eine gesunde Arbeitsgestaltung, die auch berücksichtigt, dass die Älteren insbesondere körperlich schwächer werden. Die aber gleichzeitig auch berücksichtigt, dass die Älteren in vielen Bereichen besser werden: was Gelassenheit oder kommunikative Kompetenzen betrifft.
Im psychischen Bereich ist besonders zu berücksichtigen, dass der Zeitdruck für Ältere besonders gefährlich ist. Wir leben aber leider in einer Arbeitsgesellschaft, die sehr hohem Zeitdruck hat. Da gibt es erhöhte Anforderungen, Ältere gezielt zu entlasten.
Länder wie Finnland gehen bei der Organisation der Krankenstände grundsätzlich einen anderen Weg. Was machen die besser und was könnte sich Österreich davon abschauen?
Die Finnen haben 1981 begonnen, die Demografie ernst zu nehmen und dann ein langjähriges Forschungsprojekt umzusetzen, in dem sie diesen Arbeitsbewältigungsindex entwickelt haben, den wir damals Mitte der 90er Jahre nach Österreich gebracht haben. Die Finnen haben in mehrjährigen Nationalprogrammen - im Zusammenschluss zwischen Sozialpartnern, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft - die Arbeitswelt systematisch umgestaltet. Das war völlig unabhängig von der politischen Orientierung der Regierung.
Jede Regierung hat gewusst, dass diese Arbeitsbewältigungsfähigkeit ein ganz wesentlicher Punkt ist. Das haben alle Regierungen berücksichtigt. Das hat dazu geführt, dass es ein Gesetz zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit gibt in Finnland. Und es gibt Rahmenbedingungen, die ironisch gesagt, "motivierend" sind für die Unternehmen.
Wir haben in Österreich im Prinzip ein Belohnungssystem für Langzeit-Krankenstände.
Wenn jemand zehn Jahre vor Pensionsalter frühpensioniert wurde, und das auf schlechte Arbeitsbedingungen zurückzuführen war, mussten die Unternehmen diese zehn Jahre Pension innerhalb von zwei Monaten an die Pensionskasse überweisen.
Das sind natürlich "motivierende" Faktoren, die Unternehmen stärker zum Nachdenken bringen. Die schlauen Unternehmen haben dann beschlossen, Krankenstände selbst zu bezahlen und aus Wettbewerbsgründen das von allen Unternehmen verlangt. Die sagen: Wir nehmen viel Geld in die Hand und wir gehen davon aus, dass sich das rechnet und wir dann weniger Langzeiterkrankte haben.
Das ist die große Schwierigkeit. Wir haben in Österreich im Prinzip ein Belohnungssystem für Langzeit-Krankenstände. Nach 42 Tagen, beziehungsweise im Höchstfall 12 Wochen, fällt die Lohnfortzahlung für den Betrieb weg und wird von der Gemeinschaft getragen. Wir machen es umgekehrt: Wir belohnen Langzeiterkrankung.
Könnte man sagen, dass die Politik verschlafen hat und wir da sehenden Auges auf ein demografisches Debakel zulaufen?
Ich würde sagen: Ja. Die Alterspyramide hat ihren Namen so gar nicht mehr verdient, wenn man sich das ansieht. Und das Problem sind dabei nicht die Älteren. Ich habe mein Leben lang in die Pensionskassa eingezahlt. Das Problem sind die Menschen, die gar nicht geboren wurden. Und an diesem Punkt hätte man schon viel früher ansetzen müssen, das ist schon seit Jahrzehnten klar.
Ohne Migration in einem beträchtlichen Ausmaß werden wir das nicht schaffen. Das muss auch denen klar werden, die das politische Potenzial einer harten Migrationspolitik nutzen.
Zusammenfassung
- Der Fachkräftemangel werde sich "doppelt verschärfen", sagt Heinrich Geissler, Experte für demografischen Wandel und gesundheitsfördernde Führung.
- Er spricht im PULS 24 Interview darüber, wie sich die Arbeitswelt verändern muss, damit Menschen auch im Alter noch gesund und zufrieden arbeiten können.