"Unglücklich, unverdient": Österreichs EM-Drama erklärt
Der Traum ist geplatzt. Österreich verlor leider sehr unglücklich und insgesamt absolut unverdient im EM-Achtelfinale gegen die Türkei. Vor allem in der zweiten Halbzeit sahen wir ein bärenstarkes ÖFB-Team, das trotz zahlreicher Chancen nun mit leeren Händen dasteht. Doch beginn wir von vorne und analysieren die entscheidenden Momente und taktischen Feinheiten des Spiels.
Überraschende Aufstellung
ÖFB-Teamchef Ralf Rangnick überraschte vor dem Spiel mit einigen wichtigen Umstellungen. Er verzichtete auf Maximilian Wöber und setzte stattdessen auf Kevin Danso. Das deutete darauf hin, dass Rangnick ein besonders körperbetontes Spiel erwartete. Die spielerischen Elemente von Wöber erschienen als weniger wichtig. Die Entscheidung des Teamchefs sollte sich als klug herausstellen. Danso lieferte eine robuste Vorstellung ab und zeigte sich besonders in den Zweikämpfen stark.
Auch Florian Grillitsch blieb auf der Bank, stattdessen ließ Rangnick Konrad Laimer als Sechser spielen. Aufmerksame Leser:innen wissen, wie sehr ich mich über diese Entscheidung gefreut habe. Einer von Österreichs besten Kickern durfte endlich auf seiner Paradeposition im zentralen Mittelfeld spielen. Laimer glänzte wie gewohnt gegen den Ball, nicht umsonst zählt er laut Rangnick zu den besten Balleroberern Europas.
Zudem brachte Laimer auch mit dem Ball sehr viel Sicherheit in das österreichische Spiel. Unter Thomas Tuchel beim FC Bayern hat er im Spiel mit dem Ball nochmals eine Schippe draufgelegt. Das spiegelt sich in seinem extremen Selbstvertrauen wider. Die Dynamik des 27-Jährigen gab dem ÖFB-Team eine solide Grundlage, mit Nicolas Seiwald ergänzte sich Laimer insgesamt prima.
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Katastrophaler Start
Die Anfangsphase war wild und intensiv. Gleich zu Beginn folgte für Österreich ein Rückschlag. Nach einer Ecke erzielten die Türken ein glückliches Tor. Auf meiner Bingo-Karte standen viele Szenarien, die für einen Rückstand sorgen könnten: Probleme beim tiefen Verteidigen, Fehler im Spielaufbau oder schnelle Konter der Türken.
Doch ein Eiertor nach einem Eckball war definitiv nicht dabei. Dennoch behielt das ÖFB-Team die Nerven und zeigte eine kämpferische Leistung. Besonders auffällig: Wie die Österreicher trotz des Rückstands weiterhin versuchten, das Spiel mit kühlem Kopf zu kontrollieren. Die Rangnick-Männer hielten sich wie gewohnt streng an die taktischen Vorgaben.
Isolierter Arnautović
Marko Arnautović stand wie kaum ein anderer ÖFB-Spieler über die 90 Minuten im Fokus. Seine Riesenchance beim Stand von 0:1 dürfte der ÖFB-Rekord-Spieler so schnell nicht mehr vergessen. Doch vor allem in der ersten Hälfte hatte Arnautović einen schwierigen Stand. Er war zwar viel unterwegs, musste dabei aber immer wieder auf den linken Flügel ausweichen.
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Warum Arnautović das versuchte: Einerseits um das Spiel zu entlasten und Räume zu schaffen, andererseits weil es durch die Mitte schlichtweg nicht mehr ging. Das führte dazu, dass Arnautović an vorderster Front oftmals isoliert war und im Zentrum fehlte. Deshalb gelang es den Österreichern trotz spielerisch toller Elemente nur selten, wirklich gefährlich zu werden.
Die Statistik zur Halbzeit sprach Bände: 0,39 Expected Goals und kein Schuss auf das Tor der Türken. Man spielte sich zwar wirklich oftmals sauber ins letzte Drittel, kam aber nur durch harmlose Flanken in den Strafraum. Für die türkische Abwehr war das ein gefundenes Fressen.
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Rangnicks Reaktion
Rangnick reagierte zur Halbzeit sehr gut auf das 0:1 der Türkei. Er brachte Michael Gregoritsch ins Spiel, damit wurde Arnautović an vorderster Front entlastet. Die beiden ergänzten sich hervorragend. Gregoritsch besetzte den Strafraum, so kam Österreich direkt zu einigen hochkarätigen Chancen. Arnautović hatte die riesengroße Ausgleichschance auf dem Fuß, scheiterte jedoch am türkischen Hexer Mert Günok.
Die Türken verteidigten zwar mit einer Fünferkette, trotzdem schaffte es das ÖFB-Team in der zweiten Hälfte immer wieder, die gegnerische Abwehr auseinanderzunehmen - und zwar nach allen Regeln der Kunst. Flexibel und kreativ wurde der Ball zunächst auf die rechte Seite gespielt, um den linken Verteidiger der Türken, Ferdi Kadıoğlu, herauszuziehen.
Dahinter sprinteten immer wieder abwechselnd Stefan Posch, Romano Schmid, Marcel Sabitzer, Christoph Baumgartner und Arnautović mit perfektem Timing in den rechten Halbraum und hebelten die gegnerische Abwehr damit komplett aus. Diese taktische Flexibilität im Angriffsspiel war sehr beeindruckend und zeigte, dass die Österreicher inzwischen in der Lage sind, dichte Defensivblöcke zu knacken.
Großes Chancen-Plus
Österreich zeigte eine unglaublich starke zweite Halbzeit und erspielte sich sagenhafte 2,75 Expected Goals. So ein Wert müsste normalerweise für drei Tore reichen.
https://twitter.com/OptaAnalyst/status/1808244515045614049
Allein Christoph Baumgartners Chance in der Nachspielzeit hatte eine Treffer-Wahrscheinlichkeit von 94 Prozent. Sprich, wenn der ÖFB-Star den Ball aus dieser Position 100-mal auf das türkische Tor köpfelt, pariert Goalie Günok genau sechsmal. Eines davon war aber Mittwochabend in Leipzig.
https://twitter.com/xGPhilosophy/status/1808244155526844918
Glücklose Angriffe
Wenn man den Österreichern einen Vorwurf machen kann: Trotz numerisch guter Ausgangssituation war die Strafraumbesetzung immer wieder suboptimal. Es war ein frustrierender Abend für die Österreicher, die trotz ihrer Dominanz und der Vielzahl an Chancen nicht mehr den hochverdienten Ausgleich erzielten.
Einen Haken habe ich aber: Um die EUROphorie nicht zu bremsen, habe ich stets darauf verzichtet zu erwähnen, dass Österreich basierend auf den Expected-Goals-Werten nicht so herausragend performt hat wie erwartet. Geht es nach der reinen Qualität der Chancen im direkten Duell, hätte das ÖFB-Team nämlich in der Gruppenphase mit einem Punkt ausscheiden müssen.
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Frankreich und die Niederlande spielten sich gegen Österreich jeweils mehr Chancen heraus, Polen war ebenbürtig - basierend rein auf der Qualität der Tormöglichkeiten. Gegen die Türkei war das ÖFB-Team aber besser, ja sogar haushoch überlegen. Vielleicht ist es eine grausame, ausgleichende Gerechtigkeit, dass man ausgerechnet im Achtelfinale mit den besseren Chancen ausschied.
Zudem ist es einfach ein ziemlicher Zufall, dass die Türken ausgerechnet mit zwei identischen Ecken zwei Tore erzielten. Und ausgerechnet Merih Demiral, der zuvor in seiner gesamten Nationalteam-Karriere zwei Tore gemacht hatte. Aus dem Spiel heraus gelang den Türken rein gar nichts.
Glückliche Türken
Am Ende standen beim ÖFB-Gegner aus dem Spiel heraus erbärmliche 0,2 Expected Goals zu Buche, dabei ist die große Konterchance von Barış Alper Yılmaz miteinberechnet. Ohne diese späte Gelegenheit: mickrige 0,06 Expected Goals gegen Österreich. Doch Fußball ist nicht immer gerecht. So retteten sich todmüde Türken mit zwei Eckball-Toren ins Viertelfinale. Verdient sieht anders aus.
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Trotz des unglücklichen und unverdienten Ausscheidens können die Österreicher auf ihre Leistung stolz sein. Sie haben gezeigt, dass sie auf höchstem Niveau mithalten und dominieren können. Die Türken hatten mehr Glück als Verstand und werden sich in der nächsten Runde steigern müssen. Die Rangnick-Truppe hingegen braucht sich nicht verstecken und kann auf die gezeigten Leistungen aufbauen.
Zur Person: Samuel Akhondi (30) kommt ursprünglich aus Wien und begann seine Karriere als Taktik-Analyst bei den Fußball-Fachmedien "90 Minuten" und "Spielverlagerung". Er ist Besitzer der UEFA-B-Lizenz und co-trainierte den FCM Traiskirchen zusammen mit Chefcoach Oliver Lederer. Während der WM 2018 arbeitete er gemeinsam mit Maximilian Senft als Taktik-Analyst für den ORF. Derzeit ist Akhondi Experte und Co-Kommentator bei Laola1, wo er die "LigaZwa" kommentiert. Zusätzlich arbeitete er als externer Spielanalyst für die Admira und den LASK, war Gast bei "Sport & Talk aus dem Hangar-7" und hat als Vortragender bei der Trainerausbildung des ÖFB agiert. Von Beruf ist er eigentlich Zahnarzt und arbeitet derzeit als Research Fellow an der Harvard School of Dental Medicine in Boston.
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Zusammenfassung
- Österreich verlor unglücklich und unverdient im EM-Achtelfinale gegen die Türkei.
- Der renommierte Taktik-Experte Samuel Akhondi analysiert exklusiv für PULS 24, wie es zur unglücklichen Niederlage gegen die Türkei kam.
- Ralf Rangnick überraschte mit der Aufstellung von Kevin Danso und Konrad Laimer, was sich als kluge Entscheidung herausstellte.
- Österreich hatte in der zweiten Halbzeit 2,75 Expected Goals, erzielte aber kein Tor.
- Die Türken erzielten zwei Tore nach identischen Ecken und hatten insgesamt nur 0,2 Expected Goals.
- Marko Arnautović war oft isoliert und konnte seine Chancen nicht nutzen, obwohl er viel unterwegs war.