100 Jahre Sowjetunion - Historiker sieht Parallelen zu heute
Dass Kreml-Chef Wladimir Putin den Zerfall der "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" (UdSSR) 1991 einmal als die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hat, erklärt sich der Professor für Russische Geschichte an der Universität Wien mit der "Sichtweise eines Menschen, der in der Sowjetunion sozialisiert worden und ein Teil ihres Repressions- und Überwachungsmechanismus, nämlich des KGB, gewesen ist". Die Sowjetunion werde von vielen seiner Generation als Inbegriff der Stabilität gesehen sowie "mit bescheidenem Wohlstand und imperialer Machtentfaltung assoziiert".
Sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion bestanden laut Mueller ein "imperiales Staatsgebilde" und damit verbundenes "Großmachtdenken". Die in der Orthodoxie und im Nationalismus begründete "binäre Weltsicht, die zwischen der Wir-Gruppe im Inneren und dem Westen schied, wurde durch die sowjetische Ideologie massiv verschärft". Dem späten Zarenreich sowie der Sowjetunion habe außerdem eine "Tendenz zu Überwachung und zum Geheimdienststaat innengewohnt. Phänomene der Ära Putin wie die Verfolgung von politischen Flüchtlingen kann man bis in die Sowjetunion zurückverfolgen".
Eine weitere Parallele, deren politische Auswirkungen heute wiederzusehen ist, sei die "Spaltung zwischen politischer Elite und der Masse der Bevölkerung", ergänzt Mueller. Eine politische Partizipation breiter Bevölkerungskreise habe weder im Zarenreich noch in der Sowjetunion stattgefunden. "Sehr oft ist vom Staat Gewalt gegenüber der eigenen Bevölkerung und unglaubliches Leid ausgegangen." Viele Menschen wollten daher vom Staat am liebsten in Ruhe gelassen werden. Auch diese Erscheinung sei bis in die Gegenwart verfolgbar.
Der "Blutzoll" der Sowjetunion sei "massiv" gewesen, betont Mueller. Allein die Schaffung des Staatsgebildes im Bürgerkrieg habe fünf Millionen Menschenleben gefordert. Weitere zehn bis 20 Millionen Tote habe der Stalinismus verursacht. Fünf bis acht Millionen Menschen starben in der politisch herbeigeführten Hungersnot 1932/33. Vor allem handelte es sich um Ukrainer, aber auch sehr viele Kasachen und - prozentual wesentlich weniger - russische Bauern waren betroffen. Die Maßnahmen, die zum Holodomor geführt haben, seien die vom Diktator Josef Stalin eingeleitete Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und sein Krieg gegen die ländliche Bevölkerung gewesen, gefolgt von der Beschlagnahmung von Getreide und Saatgut sowie dem Verhindern der Flucht von Hungernden. Die sowjetische Führung habe nicht nur keine Gegenmaßnahmen getroffen, sondern die Hungersnot sogar geleugnet, internationale Hilfe abgelehnt und die ukrainische Elite "beseitigt".
Bis heute sei das sowjetische Erbe sichtbar. Mueller verweist auf das weit verbreitete Großmachtdenken, "wonach man es ganz natürlich gefunden hat, dass man irgendwo einmarschiert oder einen Aufstand niederschlägt". Der Historiker nennt den Volksaufstand in Ungarn 1956, den Prager Frühling 1968 oder den Einmarsch in Afghanistan 1979. "Das ist von den Menschen weitestgehend unkritisch aufgenommen, auch von vielen unterstützt worden." Aufgrund der eigenen Erfahrung von Diktatur und Repression gab es wenig inneren Protest.
Das Erbe der Sowjetunion beurteilt Mueller dennoch als "ambivalent". Für viele Regionen und Menschen habe die Sowjetunion "massiven wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt gebracht", Industrialisierung, Alphabetisierung, Bildung und Gesundheitsvorsorge. "Der Sieg im Zweiten Weltkrieg und technische Spitzenleistungen in der Raumfahrt wurden auch durch die Turboindustrialisierung ermöglicht." Die industrielle Entwicklung erfolgte oftmals allerdings zum Preis der Ausbeutung und Zwangsarbeit von Millionen Menschen und von starker Umweltzerstörung. Mueller spricht die Baumwollwirtschaft in Zentralasien, vergiftete Flüsse und nuklear verstrahlte Gegenden an.
Die Sowjetunion sei letztlich daran "gescheitert, den Menschen eine gewaltfreie Integrationsperspektive zu geben". Das Staatsgebilde sei von drei Konzepten zusammengehalten worden: Gewalt, Modernisierung und kommunistischer Ideologie. Doch Anfang der 1980er befand sich die Sowjetunion in einer "massiven wirtschaftlichen, politischen und auch Legitimitätskrise". Und um diese dreifache Krise zu überwinden, habe Michail Gorbatschow seine Perestroika eingeleitet. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei lehnte die Fortsetzung der gewaltsamen Repressionspolitik ab und ließ, um die wirtschaftliche Liberalisierung zu fördern, auch größere politische Freiheit zu.
Doch statt wirtschaftlicher Erfolge kam die Idee der nationalen Unabhängigkeit insbesondere an der Peripherie des weltgrößten sozialistischen Staates mit seinen 15 Unionsrepubliken auf - zunächst im Baltikum und später auch im Kaukasus, in der Moldau, Ukraine und Zentralasien. Diese Bestrebungen gab es übrigens auch in Russland selbst, wo sich der Präsident der russischen Teilrepublik Boris Jelzin gegen die Unionsregierung stellte und Gorbatschow schließlich entmachtete.
Den Todesstoß hatte der Sowjetunion allerdings unwillentlich der Versuch von Armee- und KGB-Spitzen versetzt, die Reformen zu stoppen. Nach drei Tagen war ihr Putsch gescheitert, aber die Sowjetunion auch unter vielen, die vorher an ihre Reformierbarkeit geglaubt hatten, diskreditiert. Mit Gorbatschows Rücktritt endete auch die Existenz der UdSSR am 26. Dezember 1991.
Zusammenfassung
- Zwischen der Sowjetunion, die vor 100 Jahren am 30. Dezember 1922 gegründet wurde, und dem gegenwärtigen Russland gibt es Parallelen.
- Phänomene wie Großmachtdenken, eine binäre Weltsicht, Überwachung, politische Repression und geringe politische Partizipation der Bevölkerung seien heute wieder sichtbar, sagt der Historiker Wolfgang Mueller im Gespräch mit der APA.
- Weitere zehn bis 20 Millionen Tote habe der Stalinismus verursacht.