Teuflisch-guter neuer "Faust" in der Staatsoper
Gestaltet hatte Castorf die Inszenierung 2016 für Stuttgart, wobei er mit demselben Team arbeitete, mit dem er auch seinen "Ring" für Bayreuth kreiert hatte. Bühnenbildner Aleksandar Denić hat eine castorf-typische Drehbühnenstadt aus Parisklischees gezimmert. Es ist ein Paris durch die Augen Castorfs, in dem die Straßenschilder die Avenue Stalingrad und den Boulevard Maxim Gorki avisieren.
Was sich auf diesem turmhaften Gebilde in den drei Stunden Spieldauer entspinnt, ist der Castorf eigene Overkill aus teils zwei Leinwänden, wechselnden Spielflächen, Texteinblendungen und einer variantenreichen Handlung auf der Bühne, die durch die Livekamera noch gedoppelt oder getrippelt wird. Doch die visuelle Überforderung hat bei Castorf bekanntlich Tradition.
Vielleicht würde sich dieser in vielen Variationen durchgespielte Ansatz auch einmal totlaufen, wenn Castorf auf die Details vergessen würde. Tut er aber nicht, sondern weiß in jedem Moment selbst bei Chorpassagen alle Beteiligten stimmig in Aktion zu setzen. Und wie oft hat man in der Opernwelt einen Regisseur, bei dessen Arbeiten man praktisch nicht weiß, wohin schauen, weil zu viel passiert? Eben. Also ist das jetzt sicher kein Grund zu jammern. Zumal der "Faust" für einen Castorf beinahe überraschend "konservativ" im Sinne von traditionsverwurzelt daherkommt. Castorf bleibt nahe am Text, nahe an der Narration.
Die sonst so charakteristische Collagetechnik, die Rekontextualisierung, wird hier nur wohldosiert eingesetzt. Während des Liebesduetts von Faust und Margarethe blendet Castorf alte Werbeclips der vermeintlich heilen, paargrundierten Konsumwelt ein oder überblendet die beiden beim einsetzenden Verkehr mit Individualverkehr von der Champs-Élysées. Das Kriegerpathos der heimkehrenden Soldaten bricht Castorf mit Einblendung des Algerienkrieges, und auch die selbstredend vorhandene Kapitalismuskritik fügt sich nahtlos ein in ein Werk, das Arien wie Mephistos "Tanz ums Kalb" oder Margarethes "Juwelenarie" vorweisen kann.
Doch nicht nur die geschmeidigen Spielfluss erlaubende Szenerie macht eine gute Figur, auch die Sänger ziehen hier mit. Juan Diego Florez findet bei seinem szenischen Rollendebüt nach dem Mummenschanz des alten Faust zu Beginn alsbald zu strahlender Höhe und Kraft der Jugend. Sein Objekt der Begierde ist mit Nicole Car stimmlich fast etwas üppig besetzt, was allerdings in die Castorf'sche Logik passt, ist Marguerite hier doch keine Unschuld vom Lande, sondern vielmehr promiskes Partygirl. Der wirkliche Star des Abends ist bei seinem Staatsoperndebüt allerdings der relativ junge polnische Bass Adam Palka als Mephisto. Mal diabolisch, mal camp, mal erotisch, mal sadistisch liefert er eine charismatische Performance zwischen Frank-N-Furter und Höllenfürst, die von einem souveränen, nicht leiernden Bass getragen ist.
Der Herrscher über die Untiefe, also den Orchestergraben, ist indes Rückkehrer Bertrand de Billy, der einst unter Direktor Dominique Meyer im Unfrieden vom Haus geschieden war und bereits mehrere Projekte der Coronasaison betreut hatte. Ohne allzu viel Schmalz aber beileibe nicht fettarm gestaltet er die Partitur mit ihren Walzer- und Chorpassagen. Kurzum: Dieser "Faust" von Frank Castorf passt wie die Faust aufs Auge.
(S E R V I C E - "Faust" von Charles Gounod an der Wiener Staatsoper, Opernring 2, 1010 Wien. Musikalische Leitung: Bertrand de Billy, Inszenierung: Frank Castorf, Bühne - Aleksandar Denić, Kostüme - Adriana Braga Peretzki. Doktor Faust - Juan Diego Flórez, Marguerite - Nicole Car, Méphistopélès - Adam Palka, Valentin - Étienne Dupuis, Wagner - Martin Häßler, Siébel - Kate Lindsey, Marthe - Monika Bohinec. Radio Ö1 sendet am 1. Mai ab 19.30 Uhr die Aufzeichnung, ORF III am 9. Mai ab 20.15 Uhr. www.wiener-staatsoper.at)
Zusammenfassung
- Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, sollten die Musikfreunde am 19. Mai nicht den neuen "Faust" an der Staatsoper zu sehen bekommen.
- Immerhin wurde am Donnerstag für eine Ausstrahlung auf ORF III am 9. Mai aufgezeichnet.
- Zumal der "Faust" für einen Castorf beinahe überraschend "konservativ" im Sinne von traditionsverwurzelt daherkommt.
- Kurzum: Dieser "Faust" von Frank Castorf passt wie die Faust aufs Auge.