Robert Seethaler: "Dieses Buch kommt sehr aus mir heraus"
Seethaler ist in Wien-Favoriten aufgewachsen, doch seine Eltern und Großeltern stammten aus der Leopoldstadt. Daher kenne er die Gegend, die in seiner Kindheit grau und heruntergekommen und nicht bunt und boboesk wie heute war, ganz gut. Seethalers Protagonist Robert Simon trägt dieselben Initialen wie der Autor, der Roman beginnt im Spätsommer 1966 und damit ziemlich präzise rund um Seethalers eigenen Geburtstag. Das sei alles nicht wirklich geplant, beteuert er. "Ich weiß nicht, woher das kommt. Bewusste Entscheidungen treffe ich beim Schreiben selten. Die Orte des menschlichen Treibens und Erlebens sind austauschbar. Es geht mir ja nicht um die Beschreibung, sondern um die Einfühlung. Wobei man sich eigentlich in andere Menschen nicht einfühlen, sondern höchstens an sie heranfühlen kann."
Das gelingt ihm so gut, dass das Personal, das er rund um das namenlose Café und seinen Betreiber entwirft, dem Leser bald sehr lebendig vor Augen steht. Von der Serviererin Mila, dem Fleischhauer Berg und seinem alten Vater bis zu jeder Menge Gewerbetreibenden und Stammgästen entsteht ein menschliches Biotop, das einen unweigerlich an die "stille Straße im achten Bezirk" denken lässt, die Ödön von Horváth als Schauplatz seiner "Geschichten aus dem Wiener Wald" wählte. Und auch ganze Dialogpassagen erinnern an den Bildungsjargon, das Nachhorchen und aneinander Vorbeireden, das zum Markenzeichen dieses große Autors wurde.
"Horváth ist einer meiner Lieblingsautoren", bestätigt Seethaler. "Er pfeift so wie ich auf den Naturalismus. Es geht ihm um den Rhythmus. Er lässt die Menschen immer knapp an der Wirklichkeit vorbeireden. Interessanterweise hab ich ihn erst jetzt gründlich gelesen, nachdem ich dieses Buch geschrieben habe." Grund für seine nachgeholte Horváth-Lektüre sei das erste Theaterstück, das er geschrieben hat. "Nach acht Büchern, in denen ich einsam in der Ecke vor mich hingeschrieben habe, war das einmal notwendig. Und ich muss gestehen: Es hat mir gut gefallen." Details dazu lässt er sich freilich nicht entlocken. Nur so viel: Das Stück ist fertig. Und wird von einem großen Theater uraufgeführt.
Auch von der Verfilmung seines 2014 erschienenen Bestsellers "Ein ganzes Leben", mit dem er es auf die Shortlist des International Booker Prize schaffte, durch Hans Steinbichler kann er nicht viel berichten. "Ich weiß nicht, wie der Film wird. Ich weiß nur, dass er mit großem Aufwand in Osttirol gedreht wurde. Ich geb' das ab - und das war es dann." Der Film soll im November in die Kinos kommen und erzählt vom harten und entbehrungsreichen Leben des Hilfsarbeiters Andreas Egger in den Alpen. Den jungen Arbeiter spielt Stefan Gorski, den älteren und alten August Zirner.
Er selbst habe beim Schreiben nie konkrete Gesichter für seine Figuren vor Augen, beteuert Seethaler, nicht einmal bei seinem bisher größten Erfolg "Der Trafikant" sei dies der Fall gewesen - und da war immerhin Sigmund Freud eine der Hauptfiguren. Dass diese - nämlich in der Verfilmung von Nikolaus Leytner - dann einmal das Gesicht von Bruno Ganz bekommen werde, sei freilich beim besten Willen nicht vorhersehbar gewesen, stimmt er lachend zu.
Zu seinen Figuren habe er zwar kein konkretes visuelles, doch ein überaus nahes Verhältnis, gibt der Autor, dessen Bücher bisher in über 40 Sprachen übersetzt wurden, Einblick in seine persönliche Poetik. "Diese Figuren drücke ich mir aus meinem Herzen hinaus. Die Nähe ist mir alles beim Schreiben. Um Nähe zu schaffen, brauchst du die Distanz des Erzählens. So schaffst du das Paradoxe, nämlich von dir selbst zu erzählen, ohne von dir selbst zu erzählen. Dieses Buch kommt schon sehr aus mir heraus. Ich weiß nicht, ob jemand näher dran sein kann als ich. Trotzdem brauche ich, um dabei scharf zu sehen, eine gewisse Distanz. Sonst versinkt man im Sumpf der Empathie."
Diese Aussage hat bei Robert Seethaler eine besondere Bedeutung: Aufgrund einer angeborenen schweren Augenkrankheit besuchte er zunächst eine Schule für Sehbehinderte und wurde mehrfach operiert. Trotzdem hat er auf beiden Augen 19 Dioptrien. "Mein ganzes Schreiben hat sehr mit meiner Sicht oder Nicht-Sicht auf die Welt zu tun. Um überhaupt etwas zu sehen, muss ich möglichst nahe herangehen - an die Figuren, ans Leben, ans Denken. Oder ich muss die Augen zumachen. In der Dunkelheit sieht man am besten."
Wenn jemand wie er sagt "Mich interessiert ganz der Augenblick", dann wirkt der dabei mitschwingende Doppelsinn nahezu schockierend. "Eine gute Geschichte entwickelt sich für mich aus dem Augenblick und nicht aus dem Plot - und aus der Sprache. An einem roten Faden entlang zu schreiben, interessiert mich nicht. Es geht um den Augenblick. Mehr gibt es nicht. Man muss sich die Menschen immer wie unerwartet getroffen und erstaunt vorstellen. Die Reaktion ist meist interessanter als die Aktion." Der Mechanismus seiner Dialoge sei "staunendes Nachlauschen", sagt Seethaler. Und ist damit erneut ganz bei Horváth.
Lauschen kann man Robert Seethaler auch bei Lesungen auf der kommenden Leipziger Buchmesse. "Es rührt mich, dass dieser österreichische Gastland-Auftritt so groß wird. Das finde ich super. Das andere ist: Ich kenne halt niemanden. Von da her fühle ich mich nicht wirklich zugehörig, weil ich selbst in keiner Szene bin. Deshalb bleibt das für mich fremdes Terrain. Ich werde wahrscheinlich immer das Arbeiterkind bleiben, das ich einmal war."
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Robert Seethaler: "Das Café ohne Namen", claassen, 284 Seiten, 24,70 Euro, Österreich-Premiere mit Lesung und Gespräch im Theater in der Josefstadt am 13. Mai, 19.30 Uhr)
Zusammenfassung
- Robert Seethaler braucht nur einen Blick auf das vorgelegte Foto zu werfen, um zu erkennen, was es zeigt: "Hier spielt mein Buch."
- Sein neuer Roman heißt "Das Café ohne Namen", das Lokal, das sich an der vis-a-vis gelegenen Ecke Haidgasse am Karmelitermarkt heute befindet, heißt "Café Einfahrt".
- "Was ich in meinem Buch beschreibe, hat aber mit der Gegenwart nichts zu tun", sagt der Autor im Gespräch mit der APA.
- Oder ich muss die Augen zumachen.