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Comicautor Craig Thompson legte seine "Ginsengwurzeln" frei

Der Zufall schreibt die besten Geschichten: Als Craig Thompson vergangene Woche Wien erreichte, um seine neue Graphic Novel "Ginsengwurzeln" vorzustellen, stand der US-Comickünstler vor einem Problem. Durch ein Missverständnis zwischen deutschem und italienischem Verlag war er zwei Tage zu früh angereist. Wo also unterkommen? Das Literaturhaus stellte ihm schließlich Friederike Mayröckers alte Schreibwohnung zur Verfügung. "Hier sucht mich ihr Geist heim - im positiven Sinn."

Erst kürzlich wurde die Adaption der Dachgeschosswohnung im fünften Bezirk, wo die 2021 verstorbene Dichterin die letzten zwei Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte, für künftige Stipendiaten fertiggestellt. "Ich fühle mich unglaublich geehrt, hier sein zu dürfen", hielt Thompson im APA-Gespräch fest. "Es gibt eine wunderbare Energie. Dieser Ort wurde zu einer Zuflucht inmitten dieser dreimonatigen Tour." Seit Anfang September ist er nämlich mit seinem neuen Buch, an dem er mehrere Jahre gearbeitet hat, in Europa unterwegs.

Wie für Thompson typisch, ist auch "Ginsengwurzeln" ein episches Unterfangen geworden: Zunächst als klassische Comicserie in 12 Heften veröffentlicht, hat die nun erhältliche Buchversion beinahe 500 Seiten. "Ich war nicht so größenwahnsinnig, das 'great american novel' schreiben zu wollen. Aber ich wurde tatsächlich von Melvilles 'Moby Dick' inspiriert. Von Anfang an dachte ich an die Ginsengwurzel als weißen Wal. Sie sollte all die verschiedenen Themen im Buch zusammenhalten."

Davon gibt es tatsächlich reichlich: Im ländlichen, christlich-fundamental geprägten Amerika aufgewachsen, arbeitete Thompson ab dem Alter von zehn Jahren jeden Sommer auf Ginsengfarmen in der Nachbarschaft - 40 Stunden die Woche. Diesen persönlichen Bezug verknüpft er in "Ginsengwurzeln" mit ökonomischen Themen ebenso wie mit soziopolitischen Fragestellungen. Die veränderten Anforderungen an Landwirtschaft treffen auf Migration, politischen Wandel und nicht zuletzt sein eigenes Werk, durchlitt der Künstler zuletzt doch eine handfeste Schaffenskrise.

Dass er offenbar von großen Projekten angezogen wird, habe mit seiner Kindheit zu tun. "Das einzige Buch, das es bei uns gab, war die Bibel. Dieses Format hat sich wahrscheinlich eingebrannt bei mir", lachte Thompson. Eine Neuerung war diesmal allerdings das ursprüngliche Heftformat. "Das habe ich bisher noch nie gemacht, und es ist wohl eine Stärke und Schwäche zugleich." Auf diese Weise konnte er zwar schneller und flexibler arbeiten. "Aber am Ende hatte ich das Gefühl, dass die Geschichte nicht vollständig ist." Also überarbeitete er alles noch mal und fügte sogar 70 weitere Seiten hinzu. "Es gibt nun einen stärkeren narrativen Bogen."

Thompson nutzt für seine Erzählung einen journalistisch-essayistischen Ansatz und lässt in unzähligen Interviews verschiedene Protagonisten der Ginsengindustrie zu Wort kommen. "Es war sicher mein anstrengendstes Projekt bisher." Seine Recherchen führten ihn bis nach China, was die Gegenüberstellung von asiatischem und amerikanischem Ginseng nochmals vertieft und veranschaulicht. Zudem führt er etliche autobiografische Aspekte, die in seiner Coming-of-Age-Story "Blankets" (2003) begonnen haben, fort. "Ich habe seit damals gelernt, Grenzen zwischen meinem kreativen Ich und meinem realen Ich zu ziehen. Eigentlich dachte ich, dass ich mit dieser Art von Memoiren abgeschlossen habe. Aber offenbar hat sich da ein Schalter umgelegt in mir."

Im Buch wird auch die Situation der Arbeiterklasse in den ländlichen Gebieten der USA angerissen, womit der Weg nicht weit ist zur US-Wahl und dem Triumph Donald Trumps. "Auf dieser Lesereise haben mich viele Leute darauf angesprochen und erwartet, dass ich diese Dinge erklären kann, weil ich aus der Gegend komme, aus einer kleinen, homogenen, weißen Arbeitercommunity." Zwar gebe es durchaus einen Anteil äußerst radikaler Positionen. "Aber das trifft nicht auf alle zu, nicht auf die Hälfte der USA."

Dass Trump sich letztlich gegen die demokratische Kandidatin Kamala Harris durchsetzen konnte, sei nicht so überraschend gewesen. "2016 hat uns sein Sieg auf dem falschen Fuß erwischt. Wer hätte gedacht, dass dieser widerwärtigste Clown in der Debatte tatsächlich gewinnt? Aber diesmal schien es unausweichlich", so Thompson. Kurz habe er Hoffnung gehegt, als Joe Biden für Harris Platz machte. "Aber schließlich erkannte ich die Zeichen." In vielen Communities könne man sich Frauen in Machtpositionen immer noch schwer vorstellen, verwies Thompson auf Sexismus als eines der Hauptprobleme für Harris.

In seiner Geschichte spielen Thompsons politische Ansichten nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr agiert er als Dokumentarist der Geschehnisse und vermeidet Kommentare. "Das wäre auch herablassend gewesen, sowohl gegenüber den Lesern als auch meinen Interviewpartnern", betonte er. "Mir war wichtig, diesen Menschen ihre eigene Stimme zuzugestehen. Und was meine Position betrifft: Die lässt sich wohl gut aus dem gesamten Projekt ableiten, ohne dass ich sie in den Vordergrund stellen muss."

Insgesamt stehen der industrielle Ginsenganbau und das natürliche Vorkommen im Wald in der Graphic Novel sinnbildlich für moderne Gesellschaften. "Ja, das ist sicherlich eine Allegorie. Industrielle Monokulturen sind nicht nachhaltig und toxisch für Pflanze sowie Umwelt." Ginseng brauche eine Gemeinschaft aus Begleitpflanzen, um vor Krankheiten geschützt zu werden. "Man kann keine Pflanze in so hoher Dichte anbauen, es braucht Biodiversität - auch für den Menschen."

Große Hoffnungen für die Menschheit hat Thompson allerdings nicht. "Da bin ich sehr pessimistisch. Wir sind eine zerstörerische Spezies. Es ist wohl unausweichlich, dass wir aussterben. Aber ich bin optimistisch, was das Leben betrifft. Wir sind schließlich nicht das Zentrum des Universums." Das Leben werde überdauern. "Bewusstsein gibt es auch in Pflanzen und Tieren. Vielleicht zukünftig sogar in Technologie, in künstlicher Intelligenz. Es wird also weitergehen, wenn auch nicht mit uns als Spezies. Vielleicht war das aber auch von Anfang an der Plan", lachte er.

Eine Fortsetzung findet auch sein künstlerisches Schaffen, was vor kurzem noch kaum denkbar schien. "Ich bin während der Arbeit an 'Ginsengwurzeln' zwölf Mal umgezogen und hatte mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Es gab große Zweifel, was meinen Beruf betrifft. Eigentlich dachte ich, dass es das für mich war in der Comicbranche", gab sich Thompson nachdenklich. "Dieses Buch fühlte sich wie ein Schwanengesang an." Nun sei es aber, als ob er "etwas Großes überlebt" habe. "Und seit ich auf dieser Lesetour bin, haben sich die Dinge gewandelt. Ich spüre wieder Inspiration - nicht zuletzt hier, in Friederikes alter Wohnung."

Die große österreichische Autorin war ihm zuvor kein Begriff, gestand Thompson. "Seit ich hier bin, habe ich jeden Morgen meditiert und zu ihrem Werk recherchiert." Vor allem, als er ihre Zeichnungen entdeckte - einige Exemplare zieren gerahmt mit rotem Passepartout eine Wand der Wohnküche -, habe er eine Nähe zu Mayröcker verspürt. "Als Dichterin, die auch zeichnete, ist sie nach meiner Definition ja eine Cartoonistin", schmunzelte er. "So kann ich mich mit ihr austauschen." Und es sei ein weiterer Beweis dafür, wie wichtig der Zufall ist. "Man muss immer offen bleiben", nickte Thompson. "Das haben mich diese drei Monate wieder gelehrt. Ich habe versucht, empfänglich zu bleiben für Botschaften aus dem Universum, was mein Leben und künftige Arbeit betrifft." Vielleicht ist ja auch eine von Friederike dabei.

(Das Gespräch führte Christoph Griessner/APA)

(S E R V I C E - Craig Thompson: "Ginsengwurzeln", Reprodukt, 448 Seiten, 40,10 Euro, https://reprodukt.com/collections/craig-thompson; https://craigthompsonbooks.com)

ribbon Zusammenfassung
  • Craig Thompson kam durch ein Missverständnis zwei Tage zu früh nach Wien und wohnte in Friederike Mayröckers ehemaliger Schreibwohnung.
  • Seine Graphic Novel 'Ginsengwurzeln' umfasst fast 500 Seiten und verbindet persönliche Erlebnisse mit ökonomischen und soziopolitischen Themen.
  • Thompson arbeitete als Kind 40 Stunden pro Woche auf Ginsengfarmen und nutzt diese Erfahrungen in seinem Buch.
  • Er fügte 70 Seiten zur Buchversion hinzu, um einen stärkeren narrativen Bogen zu schaffen.
  • Thompson sieht seine Graphic Novel als Allegorie für moderne Gesellschaften und äußert sich pessimistisch über die Menschheit.