Alexander Zeldin: "Ich will die Welt ins Theater holen"
APA: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Stück über Ihre Mutter zu schreiben?
Alexander Zeldin: Dieses Stück ist nicht über meine Mutter, es basiert auf dem Leben meiner Mutter. Das ist ein Unterschied. Die Hauptperson heißt Alice, das ist nicht der Name meiner Mutter. Ich hatte ein achtstündiges Gespräch mit ihr. Ich wollte ein Stück machen, das ein Tabu bricht. Es geht um Intimität, darüber, was Eltern ihren Kindern erzählen. Es war mir wichtig, dass es einen realen Kern gibt - wie das in all meinen Stücken der Fall ist. Ich wollte eine Art Biopic machen. Mir gefiel die Idee, ein ganzes Leben auf die Bühne zu bringen. Das ist im Film sehr verbreitet, im Theater aber sehr selten. Und umso außergewöhnlicher ist es, als es sich nicht um eine Berühmtheit handelt - nicht um Édith Piaf oder Malcolm X -, sondern um eine normale Frau. Das war die Ausgangslage. Daraus habe das Stück dann Schritt für Schritt entwickelt.
APA: Wie wird diese Lebensgeschichte auf der Bühne umgesetzt?
Zeldin: Über Erinnerungen. Eine Frau erinnert sich an ihr Leben zu einem Zeitpunkt, als sie kurz davor ist, diese Welt zu verlassen. Man sieht wichtige Wendepunkte, Fragmente, einzelne Momente - nicht das ganze Leben.
APA: Wie haben Sie entschieden, welche Schlaglichter dieser Biografie Sie zeigen und welche nicht?
Zeldin: Das war wirklich schwer. Ich musste vieles weglassen. Ich habe versucht, jene Teile herauszuarbeiten, die wirklich emblematisch, ikonisch sind. Inspiriert hat mich die westliche Kunstgeschichte und die Vorstellung vom Leben - die Bilder von Giotto, die Geschichte von Franz von Assisi oder der Kreuzweg. Außerdem funktioniert Erinnerung auf eine interessante Art und Weise. An manche Details erinnern wir uns fast hyperrealistisch, an andere gar nicht. All das zusammen ergibt das zeitgenössisches Porträt eines Menschen.
APA: Haben Sie im Interview mit Ihrer Mutter Dinge über Ihre Biografie, über Ihre Persönlichkeit erfahren, von denen Sie vorher nichts wussten?
Zeldin: Fast alles, was auf der Bühne passiert. (lacht) Das, was einen Menschen ausmacht, ist schwer greifbar zu machen. Ich glaube, Theater kann uns näher dazu hinführen, was ein Leben ausmacht. Deswegen mache ich Theater.
APA: Sehen Sie sich dabei in einer Tradition etwa von Annie Ernaux?
Zeldin: Ja, oder von Simone de Beauvoir. Bei ihr sind viele Stellen explizit biografisch, andere nicht. Ich finde, die Frage, was wahr ist und was nicht, muss in einer Arbeit immer mitschwingen. Auch Annie Ernaux redigiert ihre eigene Geschichte. Sie entscheidet, worüber sie schreiben will und worüber nicht.
APA: Welche Lebensrealitäten werden in "The Confessions" reflektiert?
Zeldin: Ich glaube, in diesem Stück geht es einerseits um die Frage, wie man sein Leben aufrichtig leben kann. Andererseits geht es um die vergangenen 60 Jahre und darum, wie unsere Gesellschaft zu der geworden ist, die sie heute ist. Aber wenn Theater versucht, journalistisch zu arbeiten, ist es oft nicht relevant für unsere Zeit. Was relevant ist, sind Aspekte wie Selbstdarstellung und Selbsterkenntnis. In meinem Stück geht es um die Schwierigkeit, sich selbst auszudrücken, vor Augen geführt an den Erfahrungen und Kämpfen einer Frau im 20. Jahrhundert. Es geht um Empowerment, aber nicht im traditionellen, sondern mehr in einem inneren Sinn, seine eigene Stimme zu finden.
APA: Sie sind Jahrgang 1985 und machen seit 20 Jahren Theater. Was fasziniert Sie so daran?
Zeldin: Ich habe mein bisheriges Leben dem Theater gewidmet. Ich versuche, die Welt durch das Theater zu erleben und zugleich, die Welt ins Theater zu holen. Ich habe mich immer außerhalb der Institutionen bewegt. Theater ist in meinen Augen genausowichtig für die Menschheit wie Wasser, wie Glaube, wie Musik. Theater ist ein Selbstausdruck, ein Grundbedürfnis, um - wie Harold Pinter sagt - hinter den Spiegel unserer Zeit zu blicken. Es gibt mir laufend Energie. Und gleichzeitig bin ich nur ein kleiner Punkt. Es gibt so viel zu lernen und ich bin ein neugieriger Mensch.
APA: Sie haben schon vor zwei Jahren in Wien gearbeitet. Sind Ihnen Besonderheiten aufgefallen, was das Theater betrifft?
Zeldin: Was ich schon besonders finde, ist diese starke Liebe zum Theater und zur Kultur. Ich habe hier viel über meine eigene Arbeit gelernt. Für mich ist es auch interessant, als Jude hier zu sein. Mein Stück beinhaltet auch die jüdische Geschichte meines Vaters. Ich bin etwas vertraut mit dem Theater von Schnitzler und Horváth und dieser fast schon Kulturrevolution am Beginn des 20. Jahrhunderts. Horváth war außerdem wichtig für meine Arbeit - nicht für das aktuelle Stück, aber für meine Trilogie "The Inequalitys", weil er sehr mit seiner Zeit haderte und dafür eine neue Form und Sprache fand. Das versuche ich auch.
APA: Denken Sie daran, einmal einen Roman zu schreiben?
Zeldin: Ja, wobei "The Confessions" schon etwas sehr Romanhaftes hat. Und womöglich mache ich als nächstes einen Film. Darüber darf ich aber eigentlich noch nichts sagen.
(Das Gespräch führte Thomas Rieder/APA)
(ZUR PERSON: Alexander Zeldin wurde am 24. April 1985 geboren. Seine Arbeiten umfassen sowohl Theater- als auch Filmprojekte und führten ihn nach Russland, Südkorea, in den Mittleren Osten und zum Festival di Napoli, bevor er zwischen 2011 und 2014 an der East 15 Acting School der University of Essex lehrte. Zur selben Zeit war er Regieassistent für Peter Brook und Marie-Helene Estienne. Zwischen 2014 und 2019 entstand seine "Inequalities"-Trilogie, deren Teile "LOVE" und "Faith, Hope and Charity" bei den Wiener Festwochen zu sehen waren. 2022 wurde seine bis dato jüngste Produktion "Une mort dans la famille", die erste in französischer Sprache, uraufgeführt.)
Zusammenfassung
- Der britische Dramatiker und Regisseur Alexander Zeldin gehört zu den zuletzt viel beachteten Talenten des Theaterbetriebs.
- Am Mittwochabend feiert "The Confessions" im Rahmen der Wiener Festwochen Uraufführung.
- Während der Proben im Volkstheater sprach der 38-Jährige im APA-Interview über den biografischen Hintergrund seines neuen Stücks, warum er sein Leben dem Theater widmet und was Annie Ernaux und Hórvath mit seiner Arbeit zu tun haben.