Am anderen Ende der Leitung: Call-Center-Arbeit in Bulgarien
Haben Sie schon einmal online einen Flug umgebucht oder hatten Sie gar Beschwerden, weil das Online-Check-In nicht funktionierte?
Haben Sie schon einmal Essen bestellt und wollten nicht bezahlen, weil statt der Pizza ein Burger kam? Haben Sie Fragen zu der App, die Ihnen Zumba beibringen sollte oder wollten Sie sich beim Online-Glücksspiel über Rabatte erkundigen oder über Ihren Verlust beschweren?
Sie greifen zum Hörer oder schreiben der jeweiligen Firma im Chat. Was Sie vermutlich nicht wissen: Die Person am anderen Ende sitzt in vielen Fällen in Bulgarien. Egal, wo das Unternehmen seinen eigentlichen Sitz hat und selbst, wenn die Person auf Deutsch oder Englisch antwortet.
PULS 24 hat die Menschen gesucht, die dort auf Kund:innenanfragen aus Europa und der Welt reagieren. Wer sind diese Menschen? Wer sind jene, die sie bezahlen? Und welche Rolle spielen künstliche Intelligenz und Chatbots bei alledem?
Die Suche führt in die Gewerbegebiete an den Rändern der großen Städte Bulgariens – Sofia, Varna und Plowdiw. Die, die dort arbeiten, nennen ihre Arbeitsplätze klassisch Call Center. Sie sprechen von Stress, psychischer Belastung und windigen Geschäftsmodellen.
Chance oder Ausbeutung?
Spricht man hingegen mit den Unternehmern, den Geschäftsführern, dann nehmen diese den Begriff nur ungern in den Mund. Sie sprechen lieber von "BPO" oder "ITO". Also von "Business Process Sourcing" oder von "Information Technology Sourcing". "Sourcing" steht dabei für das Auslagern von bestimmten Geschäftsbereichen in andere Länder.
Sie sprechen von "Customer Service" (Kundenservice) oder von "Customer Experience", "CTX" (Kundenerlebnis). Und sie sehen in der Branche keine Ausbeutung, sondern eine Chance.
Egal, wie man es nun nennt, das Business boomt in Bulgarien.
Laut eines Berichts von AIBEST, der bulgarischen "Association for innovation, business excellence, services and technology" arbeiteten im Jahr 2021 fast 90.000 Vollzeitäquivalente in sogenannten Sourcing-Unternehmen, also in Unternehmen, die Dienste für andere Unternehmen aus dem Ausland übernehmen. Der Sektor wächst und wächst. Laut einer Schätzung von AIBEST könnte er 2025 neun Prozent des bulgarischen BIPs ausmachen.
Niedrige Löhne, niedrige Steuern
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Bulgarien lockt Unternehmen mit niedrigen Löhnen und einer pauschalen Besteuerung von nur zehn Prozent.
"Es ist demütigend für unsere Gesellschaft", sagt dazu ein Mann, der in seinem Leben schon in vier Call Centern gearbeitet hat. PULS 24 traf den 41-Jährigen, der anonym bleiben will, in einem Café.
Es ist demütigend für unsere Gesellschaft
Gleich ums Eck arbeitet er – am Institut für Japanologie der Universität Sofia. Es sei ihm immer schon leichtgefallen, Sprachen zu lernen, sagt er – in gutem Deutsch. Er lernte es schon als Jugendlicher, noch zu Kommunismus-Zeiten, in einem Sprachengymnasium. Seither brachte er sich noch Englisch bei, etwas Türkisch und Japanisch.
Er ist nervös, seine Lippen zittern am Anfang des Gesprächs. Was er erzählt, dürfte er eigentlich nicht sagen. Viele Call Center setzen den Mitarbeitenden Verschwiegenheitsverträge vor. Er erzählt trotzdem.
Ein Business "im Schatten"
"Demütigend" sei es, dass so viele junge Menschen in Bulgarien in Call Center arbeiten müssen. Viele von ihnen seien eigentlich "für bessere Jobs geeignet". Doch die gebe es in Bulgarien nur selten. "Demütigend" sei es auch, dass die Firmen nur nach Bulgarien kommen, "weil wir niedrig bezahlt sind".
Es sei oft ein Business "für andere Leute", meint der Uni-Assistent – nicht für die Bulgar:innen, nicht für die Angestellten. Die Profite würden Firmen im Ausland, nicht im Inland machen.
Es sei ein Business, das wegen "fehlender Regulationen" in Bulgarien oft "im Schatten" liege. Was er damit meint, wird klar, wenn er über die Arbeiten berichtet, die er verrichten musste, um sich neben Jobs als Dolmetscher oder an der Uni über Wasser zu halten.
Im Jahr 2016 arbeitete der heute 41-Jährige zum ersten Mal in einem Call Center.
Er war, wie später so oft, bei einer bulgarischen Firma angestellt. Doch die Fitness-App, für die er arbeitete, war eine amerikanische, die Kunden waren in Nord- und Mitteleuropa. Er reagierte auf Anfragen und Beschwerden auf Deutsch und Englisch. Er verschickte Mahnungen, wenn jemand nicht pünktlich bezahlte.
Von Zumba zum Casino
Die App sollte den Kunden Zumba beibringen, auch Sportkleidung wurde verkauft. Die Bezahlung sei "nicht gut" gewesen, er habe viele Überstunden gemacht, sagt er. Für das Dolmetschen nebenbei blieb zu wenig Zeit. Nach sieben Monaten kündigte er.
Als 2020 die Pandemie kam, brauchte er Geld. Wieder fand er in den bulgarischen Online-Jobbörsen vor allem Stellen in Call Centern. Wieder heuerte er bei einer bulgarischen Firma an: Kundenbetreuung für den internationalen Glücksspielkonzern Mr. Green. Die Firma sitzt in Malta, dotiert an der britischen Börse, die Spieler:innen sind über die ganze Welt verteilt. Betreut werden sie wohl bis heute teils von Bulgarien aus.
Seine Lippen haben nun aufgehört zu zittern. Jetzt erzählt der ehemalige Call-Center-Angestellte freigiebig über Nachtschichten, Schimpftiraden von Spielsüchtigen, schwierige Entscheidungen, wer gesperrt werden müsse und das komplizierte System, mit dem Boni und Freispiele vergeben werden.
Über all das wurde im Call Center in Bulgarien entschieden. Der Angestellte musste Glücksspiel-Lizenzen von anderen europäischen Ländern lernen, sagt er – und nach diesen handeln.
Er erzählt, wie seine Führungskräfte seine Mails und Chats kontrolliert hätten und von zu vielen Anfragen für das vorhandene Personal. Der Job sei zwar gut bezahlt gewesen, nach acht Monaten schmiss er dennoch hin.
Die Gambling-Branche ist besonders abstoßend, bei Süchtigen geht es um kranke Menschen.
Neue Firma, neues Projekt, ähnliche Situation. Wieder war es eine bulgarische Firma – ein externer Partner des österreichischen Unternehmens Paysolution, heute eine Tochter von Unzer. Das Unternehmen bietet Zahlungssysteme für den Onlinehandel an.
Der Mann aus Sofia musste reagieren, wenn jemand in Österreich, Deutschland oder der Schweiz die Lieferung eines Online-Shops nicht oder beschädigt erhielt, und Mahnungen aussprechen, wenn nicht rechtzeitig bezahlt wurde. Was er dort lernte: "Die Menschen kaufen online Sachen ein, die in Bulgarien niemand kaufen würde". Zum Beispiel teure Tiernahrung.
Wieder kündigte er nach nur wenigen Monaten. Und doch landete er voriges Jahr wieder ausgerechnet in der Branche, die er als "besonders abstoßend" bezeichnet: Beim Online-Glücksspiel.
Dieses Mal indirekt für eine zypriotische Firma. Er blieb ein halbes Jahr. Es gehe bei den Süchtigen schließlich um "kranke Menschen".
Die Leute merken, dass etwas nicht stimmt, wir haben einen Akzent.
Eigentlich will er nie wieder zurück in die Branche. Und trotzdem weiß er, der eigentlich viel lieber über japanische Philosophie sprechen würde, dass er es wieder tun würde, wenn das Geld knapp wird. Im bestbezahlten Vollzeit-Job verdiente er umgerechnet rund 1.200 Euro netto im Monat.
Der durchschnittliche Monatslohn in Bulgarien lag Ende 2022 laut der Nachrichtenagentur BTA bei rund 960 Euro brutto, der durchschnittliche Stundenlohn laut Eurostat bei 8,20 Euro.
Der Mann weiß auch, dass dann wieder dieses komische Gefühl käme: "Die Leute merken, dass etwas nicht stimmt", weil bei allen Deutschkenntnissen doch ein Akzent bleibe.
Keine netten Kunden bei irischer Airline
Das bestätigt auch eine 24-jährige Studentin aus Plowdiw, der zweitgrößten Stadt Bulgariens. Die junge Frau, die ebenfalls anonym bleiben will, hat vor vier Monaten ihren ersten Call-Center-Job angenommen.
Sie ist bei einer amerikanischen Firma am Rand der Stadt Plowdiw angestellt. Was sie beschreibt, klingt nach klassischem Großraumbüro, viele Menschen, viele Telefone, geteilte Schreibtische. Die Kunden:innen, deren Fragen und Beschwerden sie betreut, sind die Fluggäste einer großen irischen Airline.
Sie spricht in perfektem Englisch, mittlerweile mit irischem Akzent. Es habe ein paar Wochen gedauert, bis sie die Iren überhaupt nahtlos verstehen konnte, sagt sie und lacht. Wenn Fluggäste anrufen, dürfe sie nicht sagen, dass sie nicht in Irland sitze und auch nicht, dass sie nicht direkt bei der Airline beschäftigt ist. "Viele denken sogar, ich bin direkt im Flughafen", sagt die Studentin und denkt schon jetzt darüber nach, zu kündigen.
Beim Bewerbungsgespräch dachte die Studentin noch, der erste Bürojob würde sich gut im Lebenslauf machen – zumal sogar ein wenig Coding gefragt war, etwa für Umbuchungen.
Call-Center-Arbeit ist "emotional auslaugend"
Was man ihr damals nicht gesagt habe: Dass sie auch mit Kund:innenbeschwerden zu tun habe. Das würde sie nun aber "emotional auslaugen", sagt sie. Die Kund:innen seien "nicht nett" – vor allem, wenn viele Flüge gecancelt werden. Der Job sei außerdem nicht gut bezahlt. Umgerechnet rund 800 Euro netto würde sie im Monat verdienen.
Wenn man nur Englisch könne, würde man nicht so gut verdienen. Die Firma, bei der sie arbeitet, bietet auch Kundenbetreuung in Italienisch, Französisch und Deutsch an – diese Sprachen würden besser bezahlt werden, meint die Studentin.
Das weiß auch Silvere Valtot. Der Franzose zog vor sieben Jahren an die bulgarische Schwarzmeer-Küste, in die Stadt Varna. Er machte die Stadt zu seiner Heimat, durch die Gassen rast er mit seinem Mountainbike. Er spricht Bulgarisch, aber eben auch Französisch.
Eigentlich ist er Schauspieler, spielt Theater mit den Kindern von Roma, die in Ghettos am Stadtrand wohnen. Leben kann er davon nicht. Deswegen arbeitet auch er im Call Center – immer wieder.
Schlaflose Nächte
Sein erster Job in der Branche, es ging um Essenslieferungen in Frankreich, sei "beschissen" gewesen, sagt er. Die meiste Arbeit gab es spät am Abend – dann, wenn die Menschen eben Hunger bekommen. Oft sei er bis Mitternacht gesessen, erzählt er, habe bis zu 100 Chats in einer Stunde beantwortet. Am Telefon hätten ihn Leute, die im entfernten Frankreich nicht das bestellte oder kaltes Essen bekommen hätten, angeschrien. Danach konnte er nicht schlafen. Nach einem Jahr hörte er auf.
Zwei Drittel der Angestellten wurden durch Chatbots ersetzt. Das war vor allem für die Bulgaren ein Problem.
Vielleicht hätte er aber sowieso gehen müssen. Valtot erzählt, dass das Unternehmen wenig später zwei Drittel der Belegschaft gekündigt habe. Sie seien durch Chatbots, also sogenannte "Künstliche Intelligenz" ersetzt worden.
Valtot selbst hat rasch einen neuen Job gefunden. Er arbeitet nun indirekt für die Roadside-Assistance des italienischen Lkw-Hersteller Iveco.
Gute und schlechte Arbeitgeber
Roadside-Assistance – noch so ein Wort, das im Grunde Call-Center-Dienste meint. Wo auch immer ein Lkw-Fahrer ein Problem mit seinem Truck hat, Valtot schickt von Bulgarien aus einen Pannenservice oder lotst zur nächsten Werkstatt. Früher sei das von Belgien aus gemacht worden, aber das sei wohl zu teuer gewesen. Dieser Job sei "weniger beschissen", und auch besser bezahlt. Er würde umgerechnet rund 1.300 Euro im Monat verdienen, sagt Valtot.
Es gebe in der Branche eben auch gute Arbeitgeber, sagt er. Die, die Gutscheine für Sportangebote austeilen und nicht, wie andere Probezeit an Probezeit reihen und Teile des Lohnes schwarz zahlen, um bei den Steuern zu sparen.
Das mit den Arbeitsrechten und Verträgen sei in Bulgarien so eine Sache, sagen Mergjul Hasan und Radomira Ivanova. Sie haben in Varna die Autonome Arbeitergewerkschaft (ARK) gegründet.
"Sklavenhändler"
Die beiden Gewerkschafterinnen starteten für die Rechte von Supermarkt-Mitarbeitenden, sie würden sich gerne auch der Probleme in Call Centern annehmen - Ivanova arbeitete vor Jahren selbst mal in einem Call Center. Doch das sei nicht leicht. Das größte Problem sei der psychische Druck, meinen die beiden.
Viele "Geschäftsmänner" – diesen Begriff will Hasan nur unter Anführungszeichen lesen – würden die Menschen als "nicht mehr als billige Arbeiter betrachten". Sie spricht lieber von "Sklavenhändlern".
Die beiden berichten von Firmen, die in rechtlichen Grauzonen agieren würden. So habe es etwa Razzien bei Call Centern gegeben, deren Mitarbeitende über ihre Telefone Menschen in Deutschland betrügen mussten. Sie redeten ihnen etwa schwindlige Investmentangebote ein.
Was Ivanova und Hasan besonders stört: Die Mitarbeiter:innen würden sich auch strafbar machen, auch wenn sie gar nicht wissen, dass das, was die "Geschäftsmänner" von ihnen verlangen, illegal ist.
Als Gewerkschaft wird man in Bulgarien oft weder von Arbeitgebern noch von Arbeitnehmern ernst genommen.
Und dann sind da noch die vielen anderen Probleme: Schwarz ausgezahlte Löhnen, nicht vorhandenen Arbeitsverträge und Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden.
Arbeitsbedingungen zweitrangig
Als Gewerkschaft habe man es in Bulgarien schwer, meinen die beiden. Sie würden oft weder von Arbeitgeber:innen noch von Arbeitnehmer:innen respektiert werden. Und bei den Call Centern seien die Angestellten besonders schwer zu organisieren. Die Fluktuation sei hoch, viele Junge würden den Job nur kurz machen, um an schnelles Geld zu kommen. Die Arbeitsbedingungen seien da zweitrangig.
Zurück in der Hauptstadt Sofia – im sogenannten Business Park – trifft PULS 24 einen, der auf der anderen Seite steht. Er gehört zu jenen, die in der Branche eine Chance für Bulgarien sehen.
Wer die Endstation der U-Bahn-Linie M1 verlässt, befindet sich plötzlich in einem modernen Gewerbepark. Die Gebäude sind aus Glas, Stahl und Beton, rundherum gepflegte Parks und Springbrunnen, sogar ein Teich.
Nach Ausbeutung sieht es hier nicht aus, stattdessen stehen da die Namen der Großen auf den Türschildern: Commerzbank, Microsoft, Porsche, Hilti, Allianz und Lidl. Auch der amerikanische Konzern TTEC hat hier ein Büro. Executive Director ist Stefan Karagyaurov. Er trägt ein schwarzes Sakko und sitzt an einem schwarzen Konferenztisch.
"Wir sind ziemlich groß"
Alles ist schick hier, trotzdem wird bald umgebaut, erzählt Karagyaurov. Die Pläne liegen vor ihm. Alles werde neu, nur die Pflanzen in der Mitte des Konferenztisches sollen bleiben, dafür habe er sich persönlich eingesetzt.
Er und die Empfangsmitarbeiterin sind Dienstagnachmittag die einzigen im Büro. Die Mitarbeiter:innen seien alle im Homeoffice, sagt er. Das habe sich mit der Pandemie so eingependelt. Wie viele Leute gerade in ihren Wohnungen für ihn arbeiten, will Karagyaurov nicht sagen. Er sagt nur: "Wir sind ziemlich groß."
Auch TTEC übernimmt den Kundenservice für andere Unternehmen. In 20 Sprachen. Darunter Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch, Russisch, Schwedisch und Hebräisch. Der Bulgare kennt das Geschäft von der Pike auf. Er mache das seit 20 Jahren, hat in Indien, Belgien und den Niederlanden in Call Centern gearbeitet – damals selbst noch als "Agent", wie er die Menschen am Telefon oder an den Tasten nennt.
Für welche Firmen man den Kundenservice in den Standorten in Sofia und Plowdiw übernehme, will Karagyaurov auch nicht sagen. Nur so viel: Es seien die großen amerikanischen oder kanadischen IT- und Fintech-Konzerne, die ihre europäischen Kunden von Bulgarien aus betreuen lassen. Es seien aber auch ein großer Buchverlag aus Deutschland, Reise-Plattformen, Unternehmen aus dem Entertainment-Bereich und viel Technik-Support dabei.
Deutsch-Sprechende kosten in Deutschland einfach mehr.
Warum wird das von Bulgarien aus gemacht? "Bulgarien ist berühmt für das Outsourcing", sagt Karagyaurov. "Deutsch-Sprechende kosten in Deutschland einfach mehr". Dass andere Menschen wie ihn als "Sklavenhändler" bezeichnen, würde er wohl nicht durchgehen lassen. Er, der über Schengen-Veto und Brexit schimpft, bediene eben den freien Markt.
Dazu komme, dass man hier – im Gegensatz zu anderen Ländern - überhaupt noch leicht Arbeitskräfte finde. Und generell sei das Bildungssystem Bulgariens "sehr gut", meint der TTEC-Chef. Vor allem im IT-Bereich.
Stirbt das klassische Call Center aus?
Das werde in den Call Centern immer wichtiger, meint er. Denn das klassische Call Center sterbe aus. TTEC biete stattdessen "End to End"-Lösungen an, man nehme nicht nur Aufgaben ab, sondern berate die Firmen aus dem Westen "auf Augenhöhe". "Vor 20 Jahren war das ein Studentenjob", sagt Karagyaurov. Heute müsse man dabei sehr viel Technologie beherrschen. Denn: "Die Kunden wollen mehr und mehr". Sie wollen am Telefon und im Chat nicht nur beraten werden - sie wollen ein "Erlebnis".
Viele Firmen würden nicht wollen, dass ihre Kund:innenberatung in Indien oder auf den Philippinen gemacht wird. Auch wenn die Lohnkosten in Bulgarien langsam steigen, hat Karagyaurov keine Angst, dass das Land für Outsourcing unattraktiv wird. Es zähle eben auch die Qualität, ist er überzeugt.
Keine Angst vor Chatbots
Dass er in näherer Zukunft Menschen kündigen müsse, weil künstliche Intelligenz ihre Arbeit machen kann, glaubt er nicht. TTEC arbeite bereits mit KI – sie werde den "Agenten" die Arbeit erleichtern und alltägliche Arbeiten abnehmen. Dadurch werde die Qualität der Kund:innenbetreuung steigen, das "Erlebnis" noch erlebbarer machen. Und: Die KI könne ja auch in Bulgarien entwickelt werden, meint er.
Damit schlägt er in eine ähnliche Kerbe, wie die neue Regierung Bulgariens. Milena Stoycheva, Ministerin für Innovation und Wachstum, will auf Digitalisierung, Start-ups und Technologie setzen und für ein "Re-Branding" Bulgariens auch einiges an Geld in die Hand nehmen. Man wolle kein Niedriglohn-Land mehr sein. Die Steuer für Unternehmen soll auf 15 Prozent angehoben werden.
Das Silicon Valley Südosteuropas
Noch ist Bulgarien das Land mit der niedrigsten Kaufkraft der EU. Gleichzeitig hat man sich in den letzten Jahren den Ruf erarbeitet, das Silicon Valley Südosteuropas zu sein.
Vollends berechtigt, wie Philippe Kupfer, Delegierter der österreichischen Wirtschaftskammer in Sofia, sagt.
Bulgarien hat große Assets und noch weiteres Potenzial.
Auch wenn Unternehmen über vieles klagen würden - Korruption, Fachkräftemangel, politische Instabilität und teils über lückenhafte Infrastruktur und Bulgarien stark mit Abwanderung und Land-Flucht kämpft, seien da auch die Vorteile. Die Sprachkenntnisse der Bulgar:innen, das schnelle Internet und die gute Ausbildung im IT-Bereich seien "große Assets". Es gebe jedenfalls "noch weiteres Potenzial", wie Kupfer sagt.
Call-Center-Business könnte Ausweg sein
Schafft es Bulgarien, für Fluglinien, Essenszustelldienste oder Glücksspielkonzerne mehr als nur billiges Personal zu sein, könnte aus dem Call-Center-Business ein echter Ausweg werden. Mehr als demütigende und beschissene Jobs, die man macht, solange man unbedingt Geld braucht.
Vielleicht müssen dafür aber auch die Menschen am anderen Ende der Leitung – die, die von daheim aus bestellen und sich beschweren, die gambeln und turnen – ein wenig umdenken. Und sich hin und wieder bewusst machen, dass im virtuellen Gegenüber (noch) kein gefühlloser Chatbot sitzt.
Transparenzhinweis: Die Reise nach Bulgarien im Rahmen von "Eurotours" wurde vom Bundeskanzleramt mitfinanziert.
Zusammenfassung
- Essenslieferanten, Airlines, Glücksspielkonzerne. Will man mit diesen Unternehmen Kontakt aufnehmen, landet man oft in Bulgarien.
- PULS 24 hat jene Menschen gesucht, die in diesen Call Centern arbeiten.
- Wer sind sie, wer bezahlt sie und warum boomt das Outsourcing-Business in Bulgarien?
- Die einen sehen in der Branche Ausbeutung, die anderen eine Chance.
- Eine PULS 24 Reportage aus Sofia, Plowdiw und Varna.