"Du bist ein Mann. Sei einer": Russische Rekrutierungskampagne youtube.com

Wie Russland Männer in den Krieg lockt - und was sie tatsächlich erwartet

Bist du kein Mann? Durch gezielte Rekrutierungskampagnen versucht Russland Männer in den Krieg zu locken. Eine entsprechend hohe Entlohnung wird versprochen, Kindheitsträume werden zum Thema gemacht. Verwundung, Tod und das alltägliche Leid in der Realität werden geschickt versteckt.

"Du bist ein wahrer Mann. Sei einer": In einem Werbespot, der Männer dazu bringen soll, sich den russischen Streitkräften anzuschließen, spielt Russland raffiniert mit dem Thema Männlichkeit.

"Ist das der Weg, den du wählen wolltest?"

Gleich zu Beginn des Werbespots ist ein Supermarkt-Wachmann zu sehen. Eingeblendet wird die Frage: "Ist das die Art von Beschützer, die du sein willst?" "Ist das deine Stärke?" wird ein Fitnesstrainer skeptisch gefragt. Danach ist ein Taxi-Fahrer zu sehen. Auch hier ihm die Frage gestellt: "Ist das der Weg, den du wählen wolltest?"

Am Ende sind alle diese Männer in ihrer Uniform auf dem Schlachtfeld zu sehen. Zu lesen ist die Aufforderung: Du bist ein Mann. Sei einer. Die Zuseher werden dazu motiviert, sich der Armee auf Vertragsbasis anzuschließen. Wenn sie dies tun, würden sie monatliche Gehälter ab 204.000 Rubel (laut aktuellem Kurs rund 2.000 Euro) erhalten, so die Info.

Plakate werben in ganz Russland

Der im Frühjahr 2023 veröffentlichte Werbespot ist nur ein Teil einer groß angelegten Rekrutierungskampagne, durch die sich der Kreml neue Soldaten sichern will. Auch auf den Straßen Russlands sind seit Monaten überall Plakate zu sehen, die das Soldatentum ehren und verherrlichen. Parolen wie "Für den Sieg, für unsere [Leute], für die Gerechtigkeit" sind darauf zu lesen.

Auf manchen der Plakate ist die Aufschrift "Ruhm den Helden Russlands" zu lesen, darunter sind Fotos von russischen Soldaten, sowie ihre Namen zu sehen. "Die russische Armee ist eine Armee von Fachleuten" und "Unser Beruf ist es, unser Land zu verteidigen" sind weitere Beispiele. Ein Plakat bildet das Foto eines Soldaten und im Hintergrund einen seiner Vorfahren ab: "Die Zeit der Helden hat uns auserwählt" steht darauf.

Hohe Entlohnung macht Militärdienst attraktiv

Unterdessen sei der Sold in der russischen Armee seit Kriegsbeginn sogar deutlich gestiegen, so das britische Verteidigungsministerium. 

Dabei verwies man auf Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der am 4. Februar 2022 - knapp drei Wochen vor Kriegsbeginn - den Sold eines Leutnants mit 81.200 Rubel im Monat angab. Inzwischen erhielten aber sogar schon mobilisierte Gefreite nach offiziellen Angaben 195.000 Rubel (aktuell 1.887 Euro). Und viele Unteroffiziere, die in der Ukraine kämpfen, verdienen demnach mehr als 200.000 Rubel monatlich. "Dies ist mehr als das 2,7-fache des russischen Durchschnittslohns von 72.851 Rubel", hieß es in London weiter.

Dies sei eine kurzfristige Maßnahme, die den Militärdienst attraktiver erscheinen lässt, meint dazu Militärexperte Gerald Karner im PULS 24 Interview. Gerade für junge Menschen, die sich ihr Leben aufbauen oder sich unter Umständen in Kredite verschuldet haben, könne dies jedoch eine gute Möglichkeit sein, um Geld zu verdienen und anzusparen.

Aber auch in Russland gebe es eine galoppierende Inflation, unter anderem aufgrund der Sanktionen. Sehe die Zivilbevölkerung ein Ungleichbehandlung zwischen dem Entgelt der Soldaten und den Löhnen der "normalen Arbeiter", sei diese Maßnahme im russischen Gesellschaftssystem nicht langfristig durchzuführen, meint Karner.

Ukraine meldet kleinere Kriegserfolge

PULS 24 Militärexperte Gerald Karner im Interview

Geld und Männlichkeit

Durch Rekrutierungskampagnen möchte der Kreml womöglich eine weitere, vermutlich in der Bevölkerung unbeliebte Teilmobilmachung umgehen. Die "New York Times" hat verfolgt, wie solche Berichte und Kampagnen im russischen Fernsehen präsentiert werden. Auffällig sei dabei vor allem die Betonung von zwei Themen: Geld und Männlichkeit.

Wenig verwunderlich ist die Tatsache, dass diese Themen auch in Nachrichtensendungen im Fernsehen aufgegriffen werden - schließlich werden auch alle großen TV-Sender vom russischen Staat kontrolliert. Nachrichtensprecher:innen und Reporter:innen weisen die Zuschauer stets auf die Kurzwahlnummer 177 hin, mittels der man sich für den Wehrdienst anmelden kann.

Armeeeintritt als "Kindheitstraum"

Der Appell an die Männlichkeit würde an die in der russischen Gesellschaft tief verwurzelte Erwartung an Pflicht und Dienst für Männer anzuknöpfen, so die "New York Times". In einem Bericht, der am 18. April auf Kanal 1, einem der wichtigsten russischen TV-Kanäle, ausgestrahlt wurde, wird die Einfachheit des Eintritts betont. Ein Kommandeur macht zusätzlich Werbung: "Hier könnt ihr euch als echte Männer wiederfinden, ein angemessenes Gehalt verdienen und all eure Kindheitsträume und Wünsche verwirklichen".

Schon seit Beginn der Invasion wird im russischen Fernsehen ein geschöntes Bild des Krieges präsentiert. Tod, Verwundung und Leid wird kaschiert. Die Realität offenbart jedoch ein anderes Bild.

Getäuscht und enttäuscht: Verzweiflung bereits zu Kriegsbeginn

Schon zu Kriegsbeginn wurden die ersten Anzeichen der Verzweiflung unter Putins Truppen widergespiegelt. Telefonate russischer Soldaten mit ihren Angehörigen, die von der ukrainischen Regierung abgehört wurden, zeigten die bittere Realität des Krieges.

Viele Soldaten zeigten sich enttäuscht über das mangelhafte Training und die Ausrüstung, mit der sie konfrontiert wurden. Kritik am Krieg, an Präsident Wladimir Putin und den militärischen Befehlshabern wurden geäußert. "Dieser Krieg ist die dümmste Entscheidung, die unsere Regierung je getroffen hat", so ein Soldat gegenüber seiner Mutter. "Wir wurden getäuscht, wie kleine Kinder", sah ein weiterer ein.

Bereits damals berichteten Soldaten von riesigen Verlusten in ihren Einheiten. Ein Soldat namens Andrej erzählte seinem Vater in einem Gespräch, dass "die Hälfte seines Regiments weg ist". Einer weiterer Soldat berichtete von 600 getöteten Soldaten. Wiederum ein anderer erzählte von den Särgen von 400 Soldaten aus dem Fallschirmregiment, die auf ihre Heimkehr warten. Es würden "immer mehr Särge" ankommen. "Wir begraben einen Mann nach dem anderen. Das ist ein Albtraum", so der verzweifelte Soldat.

"Moral der Truppe unter dem Bodenniveau"

In sozialen Medien tauchen immer wieder Videos von russischen Truppen auf, in denen diese ihre Frustration offen zeigen. Auch sie sprechen von fehlender Bezahlung, mangelhaftem Training und medizinischer Unterstützung, und schlechter militärischer Führung. Die großzügig geworbene Entlohnung von umgerechnet fast 2.000 Euro scheint bei nicht sehr vielen Soldaten tatsächlich anzukommen. Die Moral der Truppe sei "unter dem Bodenniveau" erklärt ein Soldat in einem der Videos.

Manche der Truppen ergeben sich, manche wollen weiterkämpfen, fordern jedoch eine Besserung der Umstände. Andere fordern Hilfe, um sicher nach Hause zu kommen.

Wie Kanonenfutter: Zum sterben in die Schlacht geschickt

So spricht ein Soldat des 1486. Regiments davon, seine Kommandanten hätten ihn und andere Soldaten "wie Kanonenfutter" in die Schlacht geschickt. Das Kommando wisse nicht, was es tue, keiner wisse irgendwas. Sie hätten den Befehl bekommen: Bleibt bis zum Ende. "Zum Sterben", meint der Soldat, "sie werden wie Tiere behandelt". 

"Wir werden hier sterben", beendet er das Video.

Das bestgehütete Geheimnis des Kremls

Wie viele Russen in der Schlacht tatsächlich ihr Leben verloren haben, ist schwer zu sagen. Seine Kriegsverluste legt der Kreml nicht offen. Die erste unabhängige statistische Analyse ergab nun, dass fast 50.000 russische Männer im Krieg gestorben sein sollen.

Um das Geheimnis der wahren menschlichen Verluste zu enthüllen, haben die zwei unabhängigen russischen Medien, Mediazone und Meduza, in Zusammenarbeit mit einem Datenwissenschaftler der Universität Tübingen, russische Regierungsdaten verwendet. Sie stützen sich dabei auf das statistische Konzept der Übersterblichkeit. Anhand von Erbschaftsaufzeichnungen und offiziellen Sterbedaten wird geschätzt, wie viele Männer unter 50 Jahren zwischen Februar 2022 und Mai 2023 im Vergleich zum Normalfall gestorben sind.

Die letzten Zahlen, die Russland diesbezüglich im September 2022 veröffentlichte, waren 5.937 Tote – diese Zahl gilt unter Experten jedoch als stark untertrieben.

Weitere Mobilmachung?

Nach der Teilmobilmachung im September 2022 konnte Russland bisher einer zweiten Einberufung entgehen. Experten gehen jedoch davon aus, dass die offiziellen Rekrutierungszahlen des Kremls, nach denen sich im Juli 2023 täglich 1.400 Männer zum Einsatz meldeten, zu hoch angesetzt sind. Es könnte trotzdem zu einer zweiten Teilmobilmachung kommen.

Denn es gebe immer noch Personalprobleme, meint Politikforscherin Dara Massicot gegenüber der "New York Times". Laut der Expertin würde der Kreml vermutlich so lange wie möglich warten, um eine Entscheidung über die Mobilisierung zu treffen. Neue Gesetze, die diesen Sommer verabschiedet wurden, würden es zudem noch schwieriger machen, der Einberufung zu entgehen.

Ein Ende des Krieges scheint immer noch nicht in Sicht zu sein.

ribbon Zusammenfassung
  • Bist du kein Mann? Durch gezielte Rekrutierungskampagnen versucht Russland Männer in den Krieg zu locken.
  • Eine entsprechend hohe Entlohnung wird versprochen, Kindheitsträume werden zum Thema gemacht.
  • Verwundung, Tod und das alltägliche Leid in der Realität werden geschickt versteckt.