Neuwahlen in Serbien: Kommt eine politische Kehrtwende?
Seit 2017 ist Aleksandar Vučić der Präsident Serbiens – insgesamt beherrscht er seit zehn Jahren in verschiedenen Funktionen die Geschicke des Landes.
Nun finden am 17. Dezember vorgezogene Neuwahlen statt. Obwohl gar nicht Vučić selbst antritt, hat seine Serbische Fortschrittspartei (SNS) trotzdem einen strategischen Vorteil durch ihn. Aber auch die proeuropäische Opposition scheint diesmal so stark zu sein, wie schon seit Jahren nicht mehr.
Was wird gewählt?
Schon zum fünften Mal seit 2012 finden am Sonntag in Serbien Parlamentswahlen statt. Die jetzige vorgezogene Wahl war von der Opposition in monatelangen Protesten nach den Amokläufen im Mai erzwungen worden. Sie tritt als Bündnis "Serbien gegen Gewalt" auf.
Gleichzeitig mit dem neuen Parlament werden auch noch das Parlament der nordserbischen Provinz Vojvodina und das Belgrader Stadtparlament gewählt werden. Landesweit wird es in 65 Gemeinden auch Kommunalwahlen geben.
Was ist zu erwarten?
Umfragen zufolge wird sich das Lager von Präsident Vučić behaupten können. Etlichen Kandidatenlisten dürfte es gar nicht erst gelingen, die Drei-Prozent-Hürde zu überspringen, was entsprechend den Wahlregeln vor allem der stärksten Kraft zugute kommen wird. Und dies wird zweifellos Vučićs SNS sein.
Obwohl ihr Verluste prognostiziert werden, dürfte sie mit ihren aktuellen Bündnispartnern, den Sozialisten (SPS) von Außenminister Ivica Dačić und Minderheitenvertretern, weitermachen können. Ein SNS-Wahlsieg scheint sich auch in der Vojvodina und den meisten Gemeinden abzuzeichnen.
Ungewissheit herrscht allerdings im Hinblick auf das Belgrader Stadtparlament. In der Hauptstadt scheint die Opposition besser als die SNS dazustehen. Belgrad scheint eine der wenigen Städte zu sein, wo Vučić echte Herausforderungen gegenüberstehen könnten.
Einer der Konkurrenten ist Dragan Djilas, Führer der Oppositionsallianz "Serbien gegen Gewalt". Djilas ist ehemaliger Bürgermeister Belgrads und scheint nun eine politische Wende herbeiführen zu wollen. Ziel sei eine technokratische Regierung. Mit einem Wahlsieg in Belgrad rechnet der 56-Jährige – in den anderen Städten eher weniger.
Warum hat die Opposition schlechtere Chancen?
In Serbien ist es seit Jahren kein Geheimnis mehr, dass in Wahlzeiten vor allem Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Sozialhilfeempfänger und bestimmte marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie Roma vermehrtem Druck diverser SNS-Funktionäre ausgesetzt sind, ihre Stimme für die Regierungspartei abzugeben.
Aus Angst vor Jobverlust oder Verlust der Sozialhilfe entscheiden sich wohl viele dafür, aber nicht nur sie, auch ihre Familienmitglieder, die im Volksmund schlicht als Kapillarstimmen bezeichnet werden. Die in der Öffentlichkeit gut bekannte Praxis ist freilich nicht nachzuweisen. Entsprechend schwer ist einzuschätzen, wie groß dieser "Stimmenvorrat" der SNS ist, weil die meisten Betroffenen nicht darüber sprechen wollen.
Außerdem kontrolliert Vučić große Teile der serbischen Medienlandschaft - alle fünf TV-Sender mit landesweiter Frequenz und etliche Boulevardblätter gelten als ausgesprochen regierungsfreundlich.
Angesichts der Medienkontrolle bekommen viele Bürger Serbiens gar nie die Gelegenheit, etwas über die Beschwerden der Opposition auch zu hören. Nur ein Prozent der Sendezeit serbischer TV-Sender hätten sich bei den letzten Wahlen 2022 mit den Anliegen von Oppositionskandidaten beschäftigt, so eine Studie der Belgrader Nichtregierungsorganisation BIRODI.
Alleine im November 2023 hatte Vučić nach Berechnungen von Medien 850 Minuten Sendezeit in fünf TV-Sendern. Nach Angaben von Transparency Serbia ist dies um 70 Prozent mehr als im Vergleichsmonat des Vorjahres.
"Er hat 50 Millionen Euro, wir haben vielleicht 500.000. Seine Leute kontrollieren 85 Prozent der Medien. Er war in den vergangenen 365 Tagen über 300 Mal in den staatlichen TV-Sendern zu sehen", kritisiert Djilas gegenüber dem "Kurier". "Ich wurde zweimal in einen Sender eingeladen, beide Male wurde mir ein Kandidat der regierenden Fortschrittspartei (SNS) gegenübergesetzt".
Eine Chance für Veränderungen?
Aus Sicht der Opposition wäre es schon ein Erfolg, die Macht der Präsidentenpartei zu schmälern. Ist das jedoch realistisch?
Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst – laut einer Umfrage des Instituts Demostat sieht ein Drittel der Serb:innen ihre Lebensgrundlage schlechter als noch vor zehn Jahren. Die hohe Inflation und die damit verbundene Teuerung vor allem bei Lebensmitteln macht vielen Menschen zu schaffen.
Aber vor allem ein Thema scheint bei den Serb:innen große Wut auf die Politik auszulösen. Anfang Mai kam es binnen zwei Tagen zu zwei Amokläufen, darunter ein von einem 13-Jährigen verübtes Schulmassaker in Belgrad - 18 Menschen wurden insgesamt getötet. Wochenlang hatten zehntausende Menschen in Serbien friedlich gegen eine politische Kultur protestiert, die Gewalt schürt. Die Demonstrationen sind wieder ruhiger geworden, die Unzufriedenheit blieb jedoch.
Was bedeuten die Wahlen für die Spannungen im Kosovo?
Auch für die wieder aufgeflammten Spannungen im Kosovo könnte die Wahl eine Bedeutung haben. Höhepunkt waren die Ereignisse im September, als ein bewaffneter serbischer Trupp in Banjska die Polizei angriff. Ein kosovarischer Polizist und drei Angreifer kamen ums Leben. Prishtina beschuldigte Belgrad der Verwicklung in den Angriff, was Serbien bestritt.
Der Konflikt um den Kosovo sei ein Mittel, um nationalistische Wählerstimmen zu gewinnen, erklärt Djilas: "Vučić und der kosovarische Premier Albin Kurti beschäftigen sich mit Territorien und nicht mit den Menschen." Kosovo und Serbien müssten sich aussöhnen, so der Oppositionspolitiker, der aber gleichzeitig auf eine Selbstverwaltung der kosovarischen Serben beharrt. "Nur wenn die Kosovo-Frage gelöst ist, gibt es einen Weg für Serbien und Kosovo in die EU", meint auch der SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Andreas Schieder, der die Wahl im Dezember als Wahlbeobachter begleiten wird.
Im Kosovo bereitet sich die dort seit 1999 stationierte NATO-geführte Kosovo-Truppe (KFOR) laufend auf Situationen mit Eskalationspotenzial vor – so auch etwa bei den Wahlen am 17. Dezember, bei denen auch Kosovo-Serben teilnehmen.
Pro-europäisch oder pro-russisch?
Der Urnengang gilt auch als neuerliche Richtungswahl zwischen einer pro-europäischen und pro-russischen Ausrichtung des Landes, das seit dem Jahr 2014 EU-Beitrittsverhandlungen führt. Vučić' Politik des Lavierens zwischen den beiden großen außenpolitischen Referenzpunkten ist seit dem Beginn des russischen Aggressionskriegs in der Ukraine äußerst schwierig geworden.
Bisher hat sich der Präsident Aufforderungen aus Brüssel verschlossen, sich den EU-Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Gleichwohl verurteilte das Land auf UNO-Ebene den Völkerrechtsbruch durch den Kreml.
6,5 Millionen Bürger stimmberechtigt
Bei den letzten Parlamentswahlen im April 2022 hatte sich die SNS knapp 44 Prozent der Stimmen bzw. 120 der 250 Mandate gesichert. Derzeit geht man davon aus, dass sich die SNS knapp 40 Prozent der Stimmen sichern dürfte, "Serbien gegen Gewalt" lag Mitte November bei 26 Prozent.
Was den SNS-Führungsfunktionären in den letzten Wochen Kopfzerbrechen zu bereiten scheint, ist allerdings die Initiative einer Belgrader Intellektuellengruppe, die unter dem Namen "ProGlas" (Für die Stimme) die Bürger landesweit zur Wahlteilnahme zu animieren bemüht ist. Eine überdurchschnittliche Wahlteilnahme würde dabei nach Meinung von Analysten der Opposition zugute kommen. Bisher haben über 176.000 Bürger die entsprechende "ProGlas"-Aussendung unterzeichnet.
Stimmberechtigt sind 6,5 Millionen Bürger, was fast der Bevölkerungszahl entspricht. Laut der Volkszählung vom Frühjahr dieses Jahres hat Serbien nämlich gut 6,6 Millionen Einwohner.
Zusammenfassung
- Am 17. Dezember finden Neuwahlen in Serbien statt.
- Welche Bedeutung haben die Wahlen für die Zukunft Serbiens, aber auch die Macht von Präsident Aleksandar Vučić?
- PULS 24 hat die wichtigsten Fragen und Antworten zusammengefasst.