Millionenstadt Charkiw hat sich im Untergrund eingerichtet
Immer mehr Menschen mussten aus ihren zerstörten oder in Frontnähe liegenden Häusern in den Untergrund der Stadt fliehen. Drei Monate später spielt sich das Alltagsleben immer noch in den Metrostationen ab.
Links und rechts wird an den Wänden ein Konzert von Thomas Anders angekündigt, es wird nicht mehr stattfinden können. Am Ende des langen unterirdischen Ganges, direkt beim Eingang in die eigentliche Metrostation, warten drei Hunde. Es sind Streuner, die man ebenfalls hier herunter brachte, um sie vor Raketen, Bomben und Artilleriefeuer zu schützen. Seit Wochen, oft sogar seit Monaten harren die Menschen in den U-Bahn-Stationen einige Meter unter der Erde aus. Manche kommen beinahe jeden Tag für kurze Zeit an die "frische" Luft - doch auch oben in der Stadt riecht es nach Verbrennung.
Für den Toilettengang ins Freie
Nicht wenige Menschen, die hier herunten ihrem gänzlich neuen Alltag nachgehen, müssen sogar einigermaßen regelmäßig ans Tageslicht: Nicht unbedingt, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Die unzähligen ebenfalls hier mit ihren Besitzern wohnenden Haustiere müssen ihr Geschäft verrichten. Wie Maulwürfe blicken die Menschen kurz heraus, gehen wenige Meter mit Hund oder Katze, und schlüpfen wieder in den Untergrund. Die Gefahr ist oben in der eigentlichen Stadt allgegenwärtig.
Trotzdem: Sie sind die potenziellen Kunden eines Mannes, der sich wenige Meter vor dem Metroabgang der Gefahr aussetzt und auf einem kleinen Campingtischlein Fleischstücke, Blutwurst und Tomaten verkauft. Hinter ihm bildet ein großes zerbombtes Wohnhaus die unheimliche Kulisse.
Aus der Sowjetunion
Dass Metrostationen von den Behörden hier als langfristige Schutzräume zur Verfügung gestellt wurden, verwundert nicht: Sie kommen damit einem Zweck nach, der ihnen schon jahrzehntelang planmäßig zugestanden wurde. Die Stationen wurden, wie in der gesamten Sowjetunion, zu Zeiten des Kalten Krieges auch konzeptuell als Schutzräume für den Kriegsfall gebaut - auch wenn die Tiefe der Tunnel hier, im Vergleich zu anderen sowjetischen Städten, aufgrund des hohen Grundwasserspiegels in der Stadt relativ gering ist. Dass sich die Menschen hier im sowjetischen Schutzraum nun gerade vor russischen Raketen und Bomben verstecken müssen, mutet einigermaßen grotesk an.
Viele der Menschen hier dachten, dass sie nur wenige Stunden oder vielleicht Tage im Untergrund verbringen müssten. Mittlerweile änderte sich die Einschätzung grundlegend: Vielfach im Rahmen eines psychologischen Kraftakts fand man sich mit der Situation ab und richtete sich den zugestandenen Platz in der jeweiligen Metrostation heimelig ein.
Doch es wirkt, als gebe es auch hier soziale Unterschiede. Manche haben nur eine alte Decke, auf der sie liegen können, andere zumindest eine durchgelegene Matratze. Wieder andere liegen zwischen den Blöcken der Drehkreuze, die ihnen zumindest als räumliche Begrenzung und Sichtschutz dienen. Mitunter sieht man sogar aus Kartondeckeln gebaute "Häuser", die eine räumliche Abtrennung gewährleisten. Einige der neuen kleinen Heime erinnern an die eigene Kindheit, als man mit Pölstern und Decken Zeltburgen gebaut hat.
Unterschiedliche Behausungen
Vereinzelt hausen Familien sogar in Campingzelten - sie garantieren ein Minimalmaß an Privatsphäre und schützen sogar vor dem allgegenwärtigen Gestank hier im Untergrund. Schon fast privilegiert wirkt die Familie, die an einem kleinen Campingtisch beisammensitzt und gerade eine Mahlzeit genießt. Sogar Löffel und Gabeln haben sie mit hierher gebracht.
In der Station stehen auch Waggons, die ebenfalls als Unterschlupf dienen. Die Aufschrift auf diesen lässt die Menschen hier herunten noch immer stolz strahlen: Im Style des hiesigen Fußballaushängeschilds Metalist Charkiw sind sie gestaltet. Von 2007 bis 2014 wurde der Verein jeweils Dritter bzw. 2013 sogar Zweiter in der höchsten ukrainischen Liga, im Zeitraum der Unruhen in der Ostukraine ab 2014 begann auch der sportliche Abstieg des Vereins. "Wir waren gerade wieder am Kommen", erzählen Menschen hier immer wieder. "Doch dann kam der Krieg."
Trister Alltag
Das Leben der Menschen hier ist trist - und doch versucht man sich auch in dieser Situation so etwas, wie einen Alltag einzurichten. Kinder nehmen digital, wenn immer möglich, sogar via Distance Learning am Schulunterricht teil. Auch Witali hat seinen Laptop auf einen Karton gestellt, er dient als Bürotisch in Zeiten des Krieges.
Wie beschäftigt man sich ansonsten den ganzen Tag hindurch im Untergrund von Charkiw, während draußen das Artilleriefeuer einen grauslichen Takt vorgibt? Eine Familie hat einen Mini-Wutzler mit hierher gebracht. Die meisten Kinder versuchen aber, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ein kleiner Bursche spielt mit Stofftieren - hier kämpft der Panda spaßhalber mit dem weiß-orangen Hasen. Unweit von hier kämpfen ukrainische gegen russische Soldaten.
Opfer bringen
Bereits hunderte Zivilisten fielen in den vergangenen drei Monaten in der Oblast Charkiw den kriegerischen Auseinandersetzungen zum Opfer. Viele verfolgen die aktuellsten Nachrichten auch weiterhin auf ihren Handys - eine Mischung aus Thriller, Katastrophen- und Dokumentarfilm live aus der Realität. Die Orte des Geschehens kennt man aus der eigenen Lebensrealität.
Manche hätten hier schon wochenlang keine Alltagskleidung mehr getragen, erzählt ein junger Mann, der selbst im zerknitterten Hemd in der Metrostation herumgeht. Tatsächlich: Insbesondere die älteren Menschen sind mit Sternchen-Pyjama, Kuschel-Pullover und manchmal sogar am helllichten Tag mit Schlafhaube zu sehen.
Ein älteres Ehepaar ist gerade vom Mittagsschlaf erwacht. Die Frau lächelt und zeigt stolz die Blumen, die sie in einer Vase auf einem Karton stehend eingefrischt hat. Es ist hier in der Metrostation kein seltenes Bild, unzählige Menschen versuchen mit selbst gepflückten Blumen das triste Bild aufzulockern.
Tiere überall
Nebenan weckt ein kleiner Hund mit seinem Gebell nicht nur die gesamte zuvor noch schlafende Großfamilie, sondern verschreckt auch die Kleinkatze wenige Meter entfernt. Sie ist kaum eine Hand groß. Eine vom Kriegsleid gezeichnete Frau präsentiert stolz den tierischen Nachwuchs: "Sie wurde hier herunten geboren", erzählt sie. Ein Kätzchen des Krieges also.
Die Frau hat draußen vor der Station Gras für das Tier gepflückt und spielt nun durchgehend mit ihm. Nur das Aufheben zur nächsten Kuscheleinheit missfällt dem kleinen Wollknäuel offensichtlich. Es scheint, als würden die Tiere manchen Menschen hier überhaupt erst den Mut zum Weiterleben geben, große andere Perspektiven haben viele hier einfach nicht mehr.
Überhaupt ist eine große Zahl an Katzen mit herunter gekommen, oft haben ihre Besitzer sie angeleint. Nicht verwunderlich, denn einerseits würden die Tiere beim kurzen Gang ans Tageslicht mit all dem Kriegslärm wohl zu schnell vor Angst weglaufen, andererseits haben andere Haustierbesitzer sogar ihre Kanarienvögel in Käfigen mit ins vorläufig neue Zuhause gebracht. Zumindest ein Krieg zwischen den Haustieren soll hier verhindert werden.
Bewegende Schicksale
Die Schicksale der Schutzsuchenden sind nur schwer verdauen. Etwa jenes des 52-jährigen Ewgeny, der seit eineinhalb Monaten unten ist, gemeinsam mit seinem langjährigen Nachbarn. Die erste Phase des Krieges verbrachte Ewgeny immer wieder kauernd in seinem Bunker, der einige Meter von seinem Haus entfernt steht. Als es dann zu gefährlich wurde, flüchtete er nicht ganz freiwillig in den Untergrund. "Meine Tochter hat mich gezwungen, weil es hieß, dass mein Bunker bei näherem Beschuss einstürzen könnte", erzählt er. Nun ist er allein. Sein Sohn ist in Deutschland, seine Tochter in der Türkei. In der eineinhalb Kilometer langen Straße, in der er eigentlich wohnt, sollen nur noch sechs Menschen leben. Er weiß das, denn immer wieder verlässt Ewgeny den Untergrund und geht für einige Minuten nach Hause, um seine Hühner zu füttern.
"Putin ist ein Idiot. Ich bin ein Gegner von ihm, aber kein Gegner meines Onkels", sagt Ewgeny mit Blick auf seinen in Moskau wohnenden Verwandten. "Wir waren Brüder, shit happens", seufzt er trotzdem. Sich selbst bezeichnet er als "müde und krank". "Irgendwie sind wir alle schon krank", sagt er unter Verweis auf das lange Ausharren im Untergrund. Den Optimismus hat er bereits verloren. Der Krieg werde weitergehen, er könne nicht enden. Sobald es die Lage einmal zulässt, möchte er aber wieder nach Hause zurückkehren: "Doch wir sind zurück im Steinzeitalter."
Nach einem Witz über einen Mann vom Entminungsdienst und einem Fallschirmjäger, die sich in der Luft treffen, fällt seine Aufmerksamkeit auf den kugelsicheren Helm des Reporters. "Den kann man als Toilette benutzen", sagt er augenzwinkernd, bevor er ihn selbst probeweise aufsetzt. Den Humor haben die Menschen hier trotz des großen Leids meist nicht verloren.
Zusammenfassung
- Der 24. Februar hat für die Bevölkerung Charkiws alles verändert.
- Bereits dieser erste Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde von den Bewohnern der zweitgrößten Stadt des Landes durch Beschuss und Kämpfe in der unmittelbaren Nachbarschaft begleitet.
- Immer mehr Menschen mussten aus ihren zerstörten oder in Frontnähe liegenden Häusern in den Untergrund der Stadt fliehen.
- Sogar Löffel und Gabeln haben sie mit hierher gebracht.