Bundespräsident Cassis: "Schweiz bleibt starke EU-Partnerin"
Bern hatte die Verhandlungen über das Rahmenabkommen im Mai 2021 abgebrochen. Die Europäische Kommission fordert neue Schweizer Vorschläge noch im Jänner. Cassis versicherte am Donnerstag in Wien, dass die Schweiz im Verhältnis zur EU weiter den "bilateralen Weg" beschreiten wolle, etwa bezüglich des Binnenmarktes. "Auch wenn es Differenzen gibt." Eine schnelle Beseitigung derselben ist aber nicht absehbar, wie der 60-jährige Politiker der Schweizer Liberalen (FDP) nach dem offiziellen Pressegespräch gegenüber dem Schweizer Fernsehen andeutete: "Es ist jetzt ein Moment der Geduld. Es wäre sicher falsch, wenn man 15 Jahre über ein Thema verhandelt und kein Resultat gehabt hat, am darauffolgenden Tag wieder zu beginnen. Man muss jetzt überlegen, was ist gut gegangen, was ist schlecht gegangen, und wie bereiten wir uns für eine neue Runde vor." Van der Bellen erklärte, es sei wichtig, dass es bald zu einem brauchbaren Abkommen komme. Die momentane Situation sei für keine der beiden Seiten von Vorteil. "Es ist nicht so, dass nur die Schweiz die EU braucht, nein, auch die EU braucht die Schweiz."
Cassis hatte mit Jahresanfang turnusmäßig das Amt des Bundespräsidenten übernommen. Der Tessiner Liberale (FDP) Cassis löste mit Jahreswechsel Wirtschaftsminister Guy Parmelin ab, der die Eidgenossenschaft 2021 präsidierte. Die sieben Mitglieder der Schweizer Kollegialregierung (Bundesrat) wechseln sich jedes Kalenderjahr im Amt des Präsidenten ab. Der Bundespräsident übernimmt repräsentative Aufgaben und leitet die Kabinettssitzungen. Die Amtsinhaber bleiben gleichzeitig Fachminister.
Die Schweizer Bundespräsidenten absolvieren alljährlich traditionell in den ersten Wochen ihres Amtsjahres einen Antrittsbesuch im Nachbarland Österreich. Beide Bundespräsidenten bewerteten den Umstand, dass diese Tradition nun schon über viele Jahrzehnte gepflegt werde als "Zeichen der intensiven Verbundenheit". Cassis unterstrich, dass er bereits in den vergangenen Jahren als Außenminister, gute und tiefe Beziehungen aufgebaut habe, "wie mit keinem anderen Land."
Auf bilateraler Ebene kam er am Donnerstag auch mit Europaministerin Karoline Edtstadler und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (beide ÖVP) zusammen. Ein Treffen mit Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) gab es nicht, da sich dieser am Donnerstag beim informellen EU-Außenministerrat in Frankreich aufhielt. Ein persönliches Treffen mit Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) war ebenfalls nicht möglich, weil sich dieser wegen einer SARS-CoV-2-Infektion noch bis zum Wochenende isolieren muss.
Es gab aber ein Telefonat, nach dem Nehammer mitteilte: "Uns verbinden sehr enge menschliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen. Wir werden unsere Beziehungen im Rahmen einer Strategischen Partnerschaft in vielen Bereichen noch weiter vertiefen. Wir möchten uns auch weiterhin für ein möglichst enges Verhältnis der Schweiz zur EU einsetzen. Das ist unserem beiderseitigen Interesse." Thematisiert wurden laut Bundeskanzleramt neben EU-Fragen und Corona auch die aktuelle Situation in der Ukraine, insbesondere an der russisch-ukrainischen Grenze, und Energiefragen in Zusammenhang mit Russland. Es wurde auch vereinbart, dass der Bundeskanzler bei nächster Gelegenheit in die Schweiz reist.
Neben den intensiven wirtschaftlichen Verflechtungen (Van der Bellen: "Die Schweiz ist Österreichs viertgrößter Handelspartner") gebe es auch bei den Multilateralismus betreffenden Fragen große Überschneidungen, sagte Van der Bellen und nannte als Beispiel den Kampf gegen den Klimawandel. Beide Länder seien ja alpin geprägt und daher von dahinschmelzenden Gletschern betroffen. Ein weiteres Thema der Gespräche in Wien war die Umsetzung der noch vom nunmehrigen Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vereinbarten "Strategischen Partnerschaft zwischen der Schweiz und Österreich zwecks Vertiefung der bilateralen Beziehungen". Diese sei bereits mit Aktionsplänen für eine vertiefte Kooperation, etwa in den Bereichen Nachhaltigkeit, Bildung und Forschung, mit Leben erfüllt worden, sagte Cassis. Weitere Schritte sollen folgen.
Ein weiterer Gesprächspunkt waren auch die nächsten Schritte zur Bewältigung der Corona-Pandemie. In der Pandemie hat die ausgeprägt föderalistische Schweiz in den vergangenen zwei Jahren weniger scharfe Maßnahmen als Österreich ergriffen. Zuletzt waren die Omikron-Infektionszahlen aber laut Medienberichten mit fast 33.000 Fällen fast doppelt so hoch wie in Österreich, ohne dass es darüber große Diskussionen gibt. Die Schweizer Regierung habe bewusst einen Mittelweg gewählt und die "Hauptwirkung von Maßnahmen wie der Einschränkung der individuellen Freiheit" mit dem Risiko von unerwünschten Nebenwirkungen abgewogen. Dabei werde auch immer wieder ein "kalkuliertes Risiko" in Kauf genommen. Van der Bellen gab zu bedenken, dass die Schweiz Österreich bei der Zahl der Omikron-Infektionen möglicherweise lediglich vielleicht um "zehn Tage" voraus sein könnte. Es gelte abzuwarten, wie die Zahlen in naher Zukunft aussehen werden.
In Sachen Impfpflicht hielt Cassis auf APA-Anfrage fest, dass eine solche in der Schweiz an sich im Epidemiegesetz enthalten und geregelt sei. Allerdings seien für eine allfällige Umsetzung die Kantone zuständig. Bisher sei eine Umsetzung der Impfpflicht aber noch keinem Kanton als verhältnismäßig erschienen, so der studierte Mediziner und ehemalige Tessiner Kantonsarzt. Van der Bellen erklärte zur Situation in Österreich, dass es nach dem Abschluss des Begutachtungsverfahrens darum gehe, die Administrierbarkeit der entsprechenden Regeln zu prüfen, etwa bei möglichen Strafen. An sich seien die Unterschiede bei der Corona-Bekämpfung in beiden Ländern "moderat", urteilte Van der Bellen. Prinzipiell habe sich in der Pandemie aber gezeigt, "dass sich gute Nachbarn auch unter schwierigsten Umständen aufeinander verlassen können." Immerhin habe die Schweiz nie ihre Grenzen für die zahlreichen Arbeitspendler aus Österreich geschlossen. Cassis stellte dazu fest, dass es in solchen Fällen ja nicht nur "um Wirtschaftsräume, sondern auch um Lebensräume" gehe.
Weiter wollte Cassis in Wien "internationale Aktualitäten und die Zusammenarbeit im multilateralen Bereich" diskutieren, aber auch Themen wie "Science Diplomacy", die die Schweiz in den kommenden Jahren verstärkt ausbauen möchte. Während des Besuchs standen auch Treffen mit dem polnischen Außenminister Zbigniew Rau und der Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Helga Schmid, auf dem Programm. Polen hat 2022 den OSZE-Vorsitz inne. Die Gespräche seien wichtig, hielt der Schweizer Bundespräsident fest: "Es liegt mir am Herzen, dass diese Organisation angesichts der Spannungen rund um die Welt gestärkt wird."
Europa stehe angesichts von Problemen wie dem Klimawandel oder der "Polarisierung zwischen Osten und Westen" vor schwierigen Herausforderungen, angesichts derer der Kontinent auch stark auftreten müsse. Die Schweiz wolle dabei die Rolle der Brückenbauerin übernehmen. Wegen der Anspannungen in Zentralasien (Kasachstan) oder der Situation an den Grenzen zwischen der Ukraine und Russland gebe es Grund zu großer Sorge. "Wir haben ständigen Kontakt mit allen, mit Russland, mit der Ukraine, den USA. Was wir können, ist, Leute zusammenzubringen", erklärte Cassis, der gemeinsam mit Van der Bellen auch darauf verwies, das beide Länder als Sitz für internationale Organisationen fungieren.
Cassis wollte in Wien auch den Schweizer Aktionsplan OSZE 2022-2025 vorstellen. Dieser definiert die Ziele und Prioritäten der Schweiz im Hinblick auf das 50-Jahr-Jubiläum der Schlussakte von Helsinki 2025. Die Schweiz strebe damit die Bewahrung und gleichzeitige Revitalisierung bisheriger OSZE-Errungenschaften an und leiste damit einen Beitrag zur Stärkung der OSZE als eine Plattform für Dialog zur europäischen Sicherheit, hieß es seitens des Schweizer Außenamtes. Auf der Rückreise von Wien nimmt Bundespräsident Cassis an der 50. Internationalen Bodensee-Konferenz auf dem Säntis teil. Dort ist ein bilaterales Gespräch mit dem Liechtensteiner Regierungschef Daniel Risch geplant. Kommende Woche wird Cassis in Berlin zu einem Auftaktbesuch erwartet.
Zusammenfassung
- Zwar liegen die Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein Rahmenabkommen zur Regelung der Beziehungen aktuell auf Eis, doch bleibt die Schweiz "eine engagierte und starke Partnerin der EU und ihrer europäischen Nachbarn".
- Dieser bedauerte den aktuellen Stillstand "sehr".
- Cassis versicherte am Donnerstag in Wien, dass die Schweiz im Verhältnis zur EU weiter den "bilateralen Weg" beschreiten wolle, etwa bezüglich des Binnenmarktes.