120 Jahre "Daily Mirror": Hohe Strafzahlungen drohen
Weil der Sohn von König Charles III. nicht der einzige Kläger ist, der dem "Mirror" illegale Abhörmethoden vorwirft, könnte im Falle eines Schuldspruchs die Rechnung deutlich höher ausfallen. Die Summe dürfte dem "Herz von Großbritannien", wie sich der "Mirror" selbst nennt, weh tun.
Harry abzuhören, ist nicht der einzige und beileibe nicht der schwerste Fehler in der Geschichte des "Mirror". Aber der Fall, der Ende Juni vor Gericht kam und bei dem jederzeit das Urteil bekannt werden kann, steht exemplarisch für den oft als rücksichtslos empfundenen Umgang der "tabloid press", wie die Boulevardmedien genannt werden, mit Promis und Royals in den 1990er und 2000er-Jahren. Gegen Konkurrenzblätter sind ähnliche Klagen anhängig.
Promis, Sex, Skandale, Fußball: Die meisten Themen sind austauschbar bei den "red tops", wie "Mirror", "Sun" und "Daily Star" wegen ihrer roten Titel auch genannt werden. Ein bisschen anders aber ist der "Mirror" dann doch noch immer. Gegründet 1903 als Zeitung für Frauen, geschrieben von Frauen, wollte Verleger Alfred Harmsworth die steigende Bedeutung von Frauen widerspiegeln. "Ich möchte, dass es wirklich ein Spiegel des weiblichen Lebens ist, sowohl auf seiner Schattenseite als auch auf seiner helleren Seite", erklärte der spätere Lord Northcliffe den Titel, zu Deutsch "Spiegel".
Zwar scheiterte der weibliche Ansatz, aber der Neuanfang - nun mit einer rein männlichen Redaktion - gelang, auch dank des Einsatzes des noch jungen Mediums Fotografie. Ein erster "Scoop", wie man wohl heute sagen würde, gelang 1910: ein Bild der Leiche von König Edward VII. bei dessen Aufbahrung. Als erste Zeitung knackte der "Mirror" die Auflage von einer Million Exemplaren, in den 1960er-Jahren wurden mehr als fünf Millionen am Tag verkauft. Schätzungsweise jeder dritte Brite las damals das Blatt, wie der Medienwissenschafter Tor Clark sagt. Großbritannien sei stets ein Zeitungsland gewesen.
Vor allem aber positionierte sich der "Mirror" als Sprachrohr der großen Arbeiterklasse. "Er schrieb für die Arbeiterklasse, ohne sie niederzumachen, ohne sie zu bevormunden", sagt Clark von der Universität Leicester. "Der 'Mirror' war ihr Vorkämpfer und ihr Verteidiger." Der Stil passte sich an: kurz und ausdrucksstark, im typischen Tabloid-Stil, aber weder herablassend noch allzu anzüglich.
An der sozialdemokratischen Ausrichtung hat sich bis heute nichts geändert. Seit Jahrzehnten liegt der "Mirror" auf der Linie der Labour Party - derzeit als einziges Boulevardblatt. Die Konkurrenten wie "The Sun", die zum Medienimperium von Rupert Murdoch gehört, sowie "Daily Mail" oder "Daily Express" unterstützen mehr oder minder offensichtlich die regierenden Konservativen. Personalien zeigen, wie eng die Verbindungen sind. So wurde James Slack von der "Mail" erst Regierungssprecher und wechselte nach wenigen Jahren zur "Sun".
Dass es die damalige Chefreporterin des "Mirror", Pippa Crerar, war, die den "Partygate"-Skandal um Lockdown-Feiern in der Downing Street maßgeblich mit aufdeckte, wundert den Experten Clark nicht. Die Reporter der konservativen Boulevardblätter hätten vermutlich von den Partys gewusst, aber nicht darüber geschrieben. Eine der illegalen Feiern war die Abschiedsparty von James Slack. Der "Mirror" aber meldete sich mit der "Partygate"-Enthüllung zurück im Geschäft.
Politisch hat die Zeitung also eine Ausnahmestellung. Bei den Royals sieht das anders aus, sie werden auch vom "Mirror" unterstützt. "Die britische Arbeiterklasse ist äußerst royalistisch, sie ist sozial konservativ und sie ist sehr patriotisch", sagt Clark. Der "Mirror" verstehe seine Leserschaft gut.
In Großbritannien buhlen gleich mehrere Boulevardzeitungen um Aufmerksamkeit und Schlagzeilen. Die Probleme sind aber dieselben. Im September hatte der "Mirror" noch eine Auflage von 250.872 Exemplaren.
"Die Leser sind über 50, sie sterben langsam aus. Die Leute kaufen keine Zeitungen mehr, sie zahlen nicht mehr für Journalismus wie früher", sagt Clark. Mit dem "Independent", kein Boulevardblatt, hat eine renommierte Zeitung bereits den Druck eingestellt und auf eine reine Online-Ausgabe umgesattelt.
Zusammenfassung
- Die Summe dürfte dem "Herz von Großbritannien", wie sich der "Mirror" selbst nennt, weh tun.
- Promis, Sex, Skandale, Fußball: Die meisten Themen sind austauschbar bei den "red tops", wie "Mirror", "Sun" und "Daily Star" wegen ihrer roten Titel auch genannt werden.
- So wurde James Slack von der "Mail" erst Regierungssprecher und wechselte nach wenigen Jahren zur "Sun".
- Der "Mirror" aber meldete sich mit der "Partygate"-Enthüllung zurück im Geschäft.