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Suche nach Halt und Leben im Tiny House beim Bachmann-Preis

Unter bedrohlichen Wolken und bei deutlich kühleren Temperaturen als in den vergangenen Tagen ging der dritte und letzte Lesetag im Rahmen der 47. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt über die Bühne. Die vier sehr unterschiedlichen Texte brachten eine Auseinandersetzung mit der Suche nach Halt in der Sprache bei Yevgeniy Breyger und Laura Leupi sowie eine kapitalismuskritischen Text von Mario Wurmitzer und ein familiäres Drama von Deniz Utlu.

Der 1989 in Charkiw (Ukraine) geborene und seit 1999 in Deutschland lebende Autor Breyger startete in den letzten Lesetag. Auf Einladung von Jury-Vorsitzender Insa Wilke las er aus seinem Text "Die Lust auf Zeit", der im Warteraum eines Spitals spielt und in dem der Protagonist mit seinem Spiegelbild spricht, während er sich an die Erzählungen der Kriegserfahrungen seines Großvaters erinnert. "Eine Niere in der Klinik zu verlieren, ist schlimmer als ein Bein im Krieg, sagt er. Ja, Opa, stimmt, sage ich." Wilke nahm in ihrem Statement Bezug auf die Eröffnungsrede von Tanja Maljartschuk, die sich mit der Angst vor der Sprache angesichts des Krieges in der Ukraine befasste. In Breygers Text gehe es "darum, dass versucht wird, sich einen Halt zu erschreiben", so Wilke. "Es ist ein permanenter Versuch, sich einen Körper zu erschreiben."

Mara Delius gab zu, dass es sich um einen Text handle, "auf dessen Form man sich einlassen muss" und der das "Motiv der Erinnerung, der Weitergabe der Erinnerung und somit deren Fortleben verhandelt". Auch Klaus Kastberger forderte ein, sich mit Geduld auf den Text einzulassen und "nicht nervös zu werden". Der Autor stelle die Frage, "was es braucht, um Geschichten zu erzählen", es sei ein "extrem poetologischer Text". Brigitte Schwens-Harrant lobte "die Langsamkeit, das poetische Hinschauen" und die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man über die Dinge schreiben könne. Auch Thomas Strässle fand es bemerkenswert, "was in diesem zur Unendlichkeit gedehnten Moment der Zeitlosigkeit passiert" und lobte das "unerhört behutsame Sprachgefühl" des als Lyriker bekannten Autors. "Das Trauma ergreift mich, ich weiß aber zu wenig darüber", hoffte Mithu Sanyal, dass es sich um einen Auszug aus einem längeren Text handle. Nur Philipp Tingler zeigte sich wenig überzeugt: "Der Text erreicht mich nicht, er ist in sich hermetisch. Mir ist das irgendwie nicht genug." Kastberger konterte: "Wenn Herr Tingler sagt, ein Text ist 'so mittel', wird das oft der Bachmann-Preis."

Der zweite von zwei österreichischen Beiträgen des diesjährigen Bachmann-Preises kam vom 1992 in Niederösterreich geborenen Autor Mario Wurmitzer. In seinem von Tingler eingeladenen Text "Das Tiny House ist abgebrannt" widmete er sich in einer Ich-Erzählung einem Autor, der für eine Firma namens "Modern Home" unter Video-Beobachtung in einem "Tiny House" in einer Musterhaussiedlung lebt und sich von potenziellen Kunden beobachten lässt, bis eine mysteriöse Brandserie ihn zum Umzug zwingt. Die Jury zeigte sich nach der inhaltlichen Schwere der vorangegangenen Diskussion bemüht, sich auf Thema und Tonalität des Textes einzulassen.

So fand Wilke den Text "sehr lustig und unterhaltsam und doch gleichzeitig kritisch", schlussendlich sei aber auch der Text ein Tiny House "und damit auch begrenzt". In dieselbe Kerbe schlug auch Sanyal: "Dieser Text geht bis zum Gartenzaun und nicht darüber hinaus. Ausbrechen ist in dem Text nicht angelegt." Delius lobte die "kontrollierte Coolness" der witzigen Kapitalismuskritik. Auch Kastberger freute sich über den "wunderbar leichten, aber trotzdem sehr klugen Text", der zeigte, dass vielleicht auch der Ich-Erzähler als Autor "nur ein Produkt der Verhältnisse ist". Er habe bemerkt, dass es nicht immer die "bierernsten" Texte sind, die die größte Wirkmacht erzielen. Schwens-Harrant freute sich, dass die Thematik des ständigen Öffentlich-Seins, "das etwas mit unserem Leben macht", hier auf unterhaltsame Weise zum Thema gemacht wurde. Auch Strässle hob die Thematik der "Authentizitätssimulation" positiv hervor, sieht aber "einige Plausibilitätslücken". Für Tingler, der den Text eingeladen hat, ist das literarische Motiv der Brandstiftung "eine Eskalation der ominösen Stimmung" und lobte die "große Leichtigkeit und subversive Tiefe".

Die 1996 in Zürich geborene Autorin Laura Leupi ist die jüngste Teilnehmerin des diesjährigen Bewerbs. In ihrem von Neo-Juror eingeladenen Text entwirft sie ein "Alphabet der sexualisierten Gewalt", das von A wie Angst und Alltag bis zu Z wie "Zuhause, unser eigenes oder ein anderes, da, wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen" reicht, dazwischen finden sich erzählerische Passagen, die ein Verbrechen aufarbeiten. Für Schwens-Harrant funktionert diese starke Struktur "wie ein Geländer, ein Versuch etwas zu ordnen, das schwer zu ordnen ist". Auch Leupi verhandle "die Möglichkeit, wie etwas erzählt werden kann". Wilke würdigte die "Anarchie der Liste", auf der auch Worte stehen können, "die vielleicht gar nicht zusammengehören". Für Sanyal ist der Text ebenfalls ein Ringen mit den Begriffen, ein "Versuch, eine Sprache für etwas zu finden, wo Geschichten Gewalt ausüben".

Strässle, der die Autorin eingeladen hat, sieht den Text als einen, "der eine autofiktionale Lesart nahelegt, dem aber gleichzeitig auch die Grundlage entzieht" und lobte die "starke reflexive Ebene" und "szenisch extrem dichte Momente". Für Kastberger gewann der Text enorm durch die Art der Performance, die beim stillen Lesen vermisste Kohärenz sei im ORF-Theater geschaffen worden. Lediglich Tingler fand den Text "weder emanzipatorisch noch mutig", da er "betreibt, was er kritisiert: die Fetischisierung von Begriffen." Die Kritik an einer scheinbar totalitären Sprache der Autorin brachte schließlich Wilke zur Raserei, die feststellte, "dass die Literaturkritik extrem patriarchal geprägt" sei.

Deniz Utlu, 1983 in Hannover geboren, las als letzter Teilnehmer schließlich ebenfalls auf Einladung von Thomas Strässle. In seinem Text "Damit du sprichst" erzählt er aus der Ich-Perspektive eines angehenden Autors mit kurdischen Wurzeln von der Sprachlosigkeit des Vaters mit "Locked-In-Syndrom", dem die Mutter mithilfe von Buchstabentafeln doch noch zu Äußerungen verhilft. In der Jury fiel dieser letzte Text des Tages weitgehend durch: So kritisierte Wilke, dass das Nicht-Sprechen-Können nicht auf der sprachlichen Ebene verhandelt werde, lobte aber die Qualität der Erzählung auf der Figurenebene. Auch Delius monierte: "Alles bleibt auf derselben Ebene des Sprachregisters." Kastberger bemühte einmal mehr die sich durch den Bewerb ziehende Kritik an der Konvention: "Hier ist alles ausbuchstabiert, es gibt keine Leerstellen", so der Juror, der auch fand, dass die Themen des Textes "brav, bieder, didaktisch und zu wenig spannend" dargestellt würden. Tingler gab Kastberger zum ersten Mal in diesem Bewerb Recht. Strässle hob hervor, dass es in dem Text auch um das Nicht-Verstehen-Können geht und lobte die "extrem plastischen Aushandlungsprozesse zwischen Mutter und Sohn".

Nun liegt es am Publikum, online über den Publikumspreis abstimmen, während die Jurorinnen und Juroren sich auf die morgige Preisverleihung vorbereiten. Nach den Jury-Diskussionen der vergangenen Tage werden dem aus der Ukraine stammenden Autor Yevgeniy Breyger, der Österreicherin Anna Felnhofer und der Deutschen Valeria Gordeev gute Preischancen eingeräumt. Zum erweiterten Favoritenkreis zählen auch die aus Großbritannien stammende Autorin Jacinta Nandi, der in Frankreich geborene Jayrome C. Robinet sowie der polnisch-deutsche Autor Martin Piekar.

(S E R V I C E - https://bachmannpreis.orf.at/)

ribbon Zusammenfassung
  • Die vier sehr unterschiedlichen Texte brachten eine Auseinandersetzung mit der Suche nach Halt in der Sprache bei Yevgeniy Breyger und Laura Leupi sowie eine kapitalismuskritischen Text von Mario Wurmitzer und ein familiäres Drama von Deniz Utlu.
  • Der 1989 in Charkiw geborene und seit 1999 in Deutschland lebende Autor Breyger startete in den letzten Lesetag.
  • Tingler gab Kastberger zum ersten Mal in diesem Bewerb Recht.