Stuart Nevilles musikalische "Schnappschüsse einer Reise"
Bis die Songs zusammengefunden haben, hat es einige Zeit gedauert. "Je mehr du schreibst, umso mehr wachsen die Nummern dann auch, wenn du sie live vor Publikum spielst. In diesen Momenten nehmen sie wirklich ihre Form, ihre Struktur an", erklärte Neville im APA-Gespräch seinen Zugang. Je mehr sich auf diese Weise angesammelt hat, umso stärker verspürte der Musiker einen "Juckreiz", etwas mit diesen Songs anzufangen und ihnen "anständige Aufnahmen" zu verpassen. "Ich wollte sie fertigstellen und einen Strich unter sie ziehen." Das hat er schließlich mit Unterstützung von Michael Stark und Dominic Zimmel dann auch getan.
Die so entstandene Platte umfasst nun einen Zeitraum, der bis 2014 zurückreicht - jenes Jahr, als sich Schottland knapp, aber doch gegen die Unabhängigkeit von Großbritannien entschieden hat. Seinen Frust darüber hat Neville in den Song "Plastic Soldiers" gepackt. "Ich war damals einfach schockiert, dass das Referendum so ausgegangen ist. Es hat gedauert, bis ich meine Gefühle darüber auch ausdrücken konnte." Seitdem hat sich viel getan, nicht Schottland hat Großbritannien verlassen, sondern das Vereinigte Königreich die EU. "Dabei haben sie uns damals gewarnt, wir wären nicht mehr Teil der EU, würden wir für die schottische Unabhängigkeit stimmen. Und wo sind wir gelandet? Genau. Ich wünschte, der Song hätte keine Relevanz mehr - aber er hat sie."
Seine in erster Linie von Gitarre und Stimme zehrenden Stücke hat Neville für die Studioversionen um dezente Percussion- und Synthieeinsätze erweitert, die Kompositionen erhalten ausreichend Raum zum Atmen und bahnen sich unweigerlich ihren Weg in die Gehörgänge. Nicht immer muss es dabei streng nach Schema F zugehen. "Struktur ist zwar wichtig", nickte Neville, "aber manchmal musst du sie auch über Bord werfen. Etwa bei 'Avalon', der außerhalb üblicher Konventionen funktioniert." Die Nummer lässt ihre Melodien und Abschnitte mäandern, stets mit neuen Einfällen überraschend.
Zudem gibt sich Neville für einen mit Gitarre ausgestatteten Songwriter sehr unprätentiös, was das klassische Setting betrifft, sondern setzt stark auf Atmosphäre und den richtigen Ton für einen Song. "Durch die neuen Technologien hast du eigentlich jedes beliebige Instrument unter der Sonne zur Hand", verwies er auf den Produktionsprozess. "Es ist ein großer Spaß, dich da auszuprobieren. Aber im Endeffekt geht es darum, dass du es auch live umsetzen kannst. Und ich spiele nun mal in erster Linie solo. Solange sich etwas übertragen lässt auf die Liveperformance, bin ich aber ganz dafür."
Im Musikbusiness ist der 45-Jährige schon länger unterwegs, hat mit seiner damaligen Band Judo Push 2014 das Album "For The North" veröffentlicht und ist fixer Bestandteil der Wiener Songwritingszene. Zu ernst wolle er sich selbst aber nicht nehmen. "Als unabhängiger Künstler machst du ohnehin, was dir richtig vorkommt", nickte Neville. "Betrachtet man die Musikindustrie als große Hausparty, dann würde ich mich in der Küche am wohlsten fühlen. Die Realität ist aber, dass ich die vergangenen zehn Jahre im Garten war und an die Küchentür geklopft habe." Seinen künstlerischen Weg verfolge er, "weil ich es will und mich dafür entschieden habe".
Unfreiwillig kommen hingegen manche Songideen daher. So etwa an jenem Tag im Jahr 2015, als nahe des Einkaufszentrums in Parndorf die Flüchtlingstragödie mit mehr als 70 Toten passierte. "Ich war damals bei einem Event vor Ort gebucht, um zu spielen", erinnerte sich Neville. "Als ich dann dort war, erfuhr ich in einer Pause von dem Unglück. Ich konnte den Autobahnabschnitt sogar vom Platz, an dem ich war, sehen. Aber drehte ich mich um, liefen die Leute mit ihren Gucci-Taschen und Diesel-Shirts herum, vollkommen unbeirrt und wahrscheinlich auch unwissend darüber, was nur wenige hundert Meter entfernt passiert ist. Die Kluft zwischen diesen Welten hätte größer nicht sein können." Verarbeitet hat er seinen Schock schließlich in "The Saddest Waltz".
Vielfach drehen sich seine Lyrics um die Art und Weise, wie wir uns sehen oder gesehen werden wollen. "In meinen Songs geht es immer auch um Rücksicht. Als Gesellschaft können wir nur dann funktionieren, wenn wir anerkennen, dass es andere Leute gibt und sie wichtig sind. Sie alle spielen die Hauptrolle in ihrem eigenen Film", sagte Neville. "Unsere Handlungen haben Konsequenzen für andere, dessen müssen wir uns bewusst sein. Leider schaut die Realität aber oft anders aus. Auch ich steige anderen schon mal auf die Zehen - aber ich gebe mir wirklich Mühe, es nicht zu tun."
(Das Gespräch führte Christoph Griessner/APA)
(S E R V I C E - www.stuneville.com)
Zusammenfassung
- "Ich wollte einfach viele verschiedene Dinge ansprechen", betonte Neville, der die Songs am 26. April im Wiener Club B72 vorstellt.