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Stemanns "Orestie" zwischen Chaos und Happy End in Salzburg

Kassandra in der Talkshow, Orest und Elektra im Video-Call und das Publikum als Geschworene: Nicolas Stemann setzt in seiner Neuinszenierung der "Orestie" nicht nur auf die Verschränkung der Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, sondern auch einen optischen wie sprachlichen Bezug zum Heute, um das Wesen der Demokratie und des Zusammenlebens zu ergründen. Entstanden ist eine knapp vierstündige, zunehmend groteske Tetralogie, die auf der Perner-Insel ins Chaos führt.

Wenn der Regisseur zu Beginn des Stücks selbst auf die Bühne kommt, hat das meist nichts Gutes zu bedeuten. Doch Stemann hat nicht etwa einen Ausfall zu verkünden, sondern will sich dem Publikum kurz erklären. Man zeige zunächst "Agamemnon" von Aischylos, gefolgt von Sophokles' "Elektra" und wiederum Aischylos' "Eumeniden", um schließlich mit "Orestes" von Euripides zu schließen. Auf dieser "ziemlichen Reise durch die attische Demokratie" werde Orest einmal begnadigt und einmal zum Tode verurteilt werden, wodurch sich zeige, wie sehr sich die Perspektive auf dieselben Themen innerhalb eines Zeitraums von nur 50 Jahren - zwischen Aischylos und Euripides - verändert habe. Es wird nicht der letzte Auftritt des Regisseurs bleiben, der gleichsam als Moderator wie Erklärbär seiner eigenen Inszenierung in Erscheinung tritt.

Zunächst darf jedoch klassisch gespielt werden: Vor einer schwarz gerasterten Bühnenrückwand, die später einem Setzkasten gleich bespielt werden wird, findet sich das fünfköpfige Ensemble in kunstvoll mit Teilen von griechischen Statuen bedruckten Kostümen ein, um als Chor die Geschichte rund um Agamemnons Opferung seiner Tochter Iphigenie zu berichten. Währenddessen plakatieren Bühnenarbeiterinnen, die später auch gesanglich in Erscheinung treten, auf der Rückwand Bilder von Krieg und Zerstörung, für jeden neuen Toten kommt ein durchgestrichenes Porträt dazu. Immer wieder schälen sich Patrycia Ziolkowska als rachsüchtige Klytaimnestra, Julia Riedler als sich auf die Seite des Vaters schlagende Elektra oder Sebastian Rudolph als Agamemnon aus der Gruppe heraus, um für sich selbst zu sprechen und die Handlung in ihren Taten voranzutreiben. Sprachlich orientiert man sich am Heute: Da geht es darum, "Städte zu bombardieren" und "die Bürde, privilegiert zu sein". Schließlich wird die Seherin Kassandra in einer ulkigen Szene in die Talkshow "Menschen bei Aischberger" eingeladen, um ihre Sicht der Dinge darzulegen, bevor Agamemnon in einer blutigen Badewannenszene sein Leben lassen muss und die an den Bühnenrändern drapierten weißen Stoffe sich in Bewegung setzen und sich in Blutbahnen verwandeln.

Schnitt. Nun ist Sophokles' "Elektra" an der Reihe, die sich - ebenso wie ihr Bruder Orest (Sebastian Zimmler) - via Live-Videostream aus dem ersten Stock des Setzkastens meldet und angesichts des Mordes an ihrem Vater auf Rache sinnt. Da entfährt ihr schon mal ein "Ich kotze, sorry". Hier gelingt Stemann - trotz der radikalen Eindampfung des Stückes auf weniger als eine Stunde - das eindringliche Porträt einer rasenden Tochter, die sich - wiedervereint mit ihrem geliebten Bruder - auf einen blinden Rachefeldzug einschwört, der durch die auf die Bühnenrückwand projizierte Doppelung und den rasenden Sound der auf der Bühne platzierten Band noch verstärkt wird, sodass Klytaimnestra und ihrem Geliebten Aigisth, der ebenfalls von Sebastian Zimmler verkörpert wird, keine Chance zum Überleben bleibt.

Im dritten Teil steht mit den "Eumeniden" schließlich eine demokratische Versuchsanordnung auf dem Programm, wenn Ziolkowska nun als im silbernen Glitzer-Outfit gewandete Athene Gericht über den Muttermord hält, während Orest von Apoll (Sebastian Rudolph) verteidigt wird und das Publikum von Stemann dazu aufgerufen wird, mittels auf den Sitzen verteilten Stimmzetteln für oder gegen Orests Begnadigung zu stimmen. Dass hier weder das Wahlgeheimnis beachtet wird noch die Stimmenauszählung mit rechten Dingen zugeht, kommentiert der Regisseur zur Sicherheit auch noch für all jene, die den Wink mit dem Zaunpfahl noch nicht verstanden haben.

Doch der "Traum des Aischylos", in dem es zu einem Happy End und Orests Freiheit kommt, war eben nur ein Traum, weshalb im vierten Teil des Abends schließlich Euripides' "Orestes" aka "Der Albtraum des Euripides" gezeigt wird und nicht nur von einer KI verfremdete Videos der handelnden Personen über die Bühnenrückwand flitzen, sondern Orest und Elektra nach dem Schuldspruch damit beschäftigt sind, sich selbst umzubringen, bevor sie dann doch den Plan schmieden, sich die Hilfe von Agamemnons Bruder Menelaos zu erzwingen, indem sie seine Tochter Hermione als Geisel nehmen. Die Ereignisse überschlagen sich, es kommt zu einem Sturm auf den Palast, der nicht zuletzt an den Sturm auf das Kapitol erinnert, Apoll fasst das Geschehen in Glitzerhose und Sonnenbrille zusammen und das Chaos ist perfekt. Nach vier Stunden sind alle Schlachten geschlagen, das Publikum angeschlagen und Stemann sichtlich zufrieden.

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - Salzburger Festspiele: "Orestie" nach Aischylos /Sophokles /Euripides auf der Perner-Insel, Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg. Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Sophie Reble. Mit u.a. Julia Riedler, Sebastian Rudolph, Sebastian Zimmler und Patrycia Ziolkowska. Musikalische Leitung und Klavier: Laurenz Wannenmacher. Weitere Termine: 5., 7., 9., 11., 12., 13. und 15. August. www.salzburgerfestspiele.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Nicolas Stemann inszeniert die 'Orestie' in einer knapp vierstündigen Aufführung auf der Perner-Insel.
  • Die Inszenierung umfasst Werke von Aischylos, Sophokles und Euripides und thematisiert Demokratie und menschliches Zusammenleben.
  • Das Publikum wird während der 'Eumeniden' als Geschworene einbezogen und stimmt über Orests Begnadigung ab.
  • Stemann tritt als Moderator und Erklärer auf, während das Ensemble kunstvolle Kostüme trägt und die Bühne mit Bildern von Krieg und Zerstörung dekoriert ist.
  • Die Inszenierung endet mit einem Sturm auf den Palast, der an den Sturm auf das Kapitol erinnert, und ist eine Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg.