Staatsballett mit Gaga und Bach in der Staatsoper
Hinter den Kulissen des Staatsballetts mag es rund um den angekündigten Abschied des Schweizer Ballettdirektors Martin Schläpfer eventuell anders aussehen, aber was für ein wunderbares Hin und Her von Körpern auf der Bühne, die sich im Einklang zu den Streichern wie Schilf im Wind bewegen. Ohad Naharins "Tabula Rasa" ist ein herrlich schwermütiger Tanz zu Arvo Pärts gleichnamiger, eindringlicher Partitur. Das Beste kommt in der zweiten Hälfte, wenn ein Tänzer rechts auf der Bühne in einem Lichtkegel erscheint und beginnt, seinen Körper schwingend, sehr langsam zur linken Seite der Bühne zu gleiten. Dann gesellt sich eine Frau zu ihm und eine weitere und dann wieder ein Mann, immer weiter und weiter, bis sich alle zehn Tanzende mit hypnotischer Ruhe wie ein Pendel in metronomischem Rhythmus bewegen. Es hat eine sehr faszinierende Wirkung.
"Tabula Rasa", ein Ensemblestück, das Naharin ursprünglich 1986 inszenierte, ist eine interessante Choreografie. Die Musik des estnischen Komponisten Arvo Pärt in der ersten, körperlich anstrengenden Hälfte hat eine ergreifende Melancholie, da eine Geigenmelodie wiederholt aufgebaut wird und verblasst. Jeder Körper versucht, sich mit einem anderen zu verbinden. Duos und Trios bilden sich, Tänzer finden und verlieren sich. Die zweite Hälfte wird durch einen melodischen Schleier getanzt. Eine Frau wird an den Füßen über den Rücken eines Mannes gezogen. Ein Pas de trois verzweifelt aneinander.
"Tabula Rasa" entstand bereits, bevor Naharin seine Bewegungssprache "Gaga" entwickelte, aber es ist ein Paradebeispiel seines Tanzstils, "eine Art Wahrnehmungsschule der Sinne", wie der Israeli es selbst ausdrückt: "In der Praxis geht es um Ausdauer, Kraft, Bewegungsökonomie, Feinheit und Explosivkraft". All diese Dinge scheint er in den potenten Tänzern des Staatsballetts gefunden zu haben, die mit Leichtigkeit in seine kinetischen Formen springen, sich dehnen und zusammenrollen.
Nach einer Pause folgt eine zweite Premiere, das eigentliche Herzstück des Abends, aber was für ein Kontrast sich hier bietet! Die Compagnie erscheint bei den "Goldberg-Variationen" erst regungslos, die 36 Tänzer jeder für sich allein, und als der Pianist William Youn zur "Aria" anhebt, bewegt sich die Gruppe langsam aus der Mitte heraus. Einige werden dieses Bild vielleicht kennen. Heinz Spoerlis Arbeit, die der Schweizer 1993 für seine Düsseldorfer Compagnie zu Johann Sebastian Bachs meisterhafter "Clavier-Übung" choreografierte, gehörte viele Jahre zum Repertoire des Zürcher Balletts. Der inzwischen 82-Jährige hat sein 80-minütiges "Tanzdrama über den Menschen" in einem eigens für Wien neu entworfenen Bühnen- und Kostümdesign inszeniert. Die 30 Variationen haben keine aufwendigen Szenerien, und die Tänzer tragen farbige Trikots in Giftgrün, Blitzblau, Blutrot und dergleichen.
Die Tänze ziehen angenehm vorbei, technisch präzise, stramm, verspielt und flott, aber sie packen einen nicht. Spoerli mischt klassische Schritte mit sportlicher Athletik und lässt die Tänzer in 30 Variationen auf die unterschiedlichsten Arten interagieren. Eine Begegnung hier, ein Abschied da, Glücklichsein und Trauer. Ein Duett zwischen Olga Esina und Brendan Saye halt von tief empfundener Sehnsucht wieder. Es wird auch nach dem tosenden Applaus klar, dass erster Solist Davide Dato derjenige ist, der wieder allen die Show stiehlt. Auch herausragend Liudmila Konovalova.
Der Legende nach schrieb Bach seine "Goldberg-Variationen" für den russischen Botschafter am kurfürstlichen Hof von Sachsen, Graf Kaiserling, der an Schlafstörungen litt. Vielleicht haben Bachs Variationen tatsächlich die Schlaflosigkeit des Grafen geheilt. Und Schlaf ist auch in der Staatsoper nicht angesagt, aber man sehnt sich dann doch nach mehr Gaga im Leben.
(S E R V I C E - "Tabula Rasa" nach Arvo Pärt in der Staatsoper, Opernring 2, 1010 Wien. Dirigent: Christoph Koncz. Choreografie, Bühne und Licht: Ohad Naharin, Kostüme: Eri Nakamura sowie "Goldberg-Variationen" nach Johann Sebastian Bach, Choreografie und Kostüme: Heinz Spoerli, Bühne: Florian Etti. Weitere Vorstellungen am 1., 5., 9., 15., 19., 22., 25. und 29. Mai 2023. www.wiener-staatsoper.at)
Zusammenfassung
- So heißt die wundersame Bewegungssprache, die Ohad Naharin entwickelt hat.
- Der Israeli verwandelte in "Tabula rasa" am Donnerstagabend das Staatsballett in der Staatsoper in ein fleischgewordenes Metronom.
- Duos und Trios bilden sich, Tänzer finden und verlieren sich.
- Choreografie, Bühne und Licht: Ohad Naharin, Kostüme: Eri Nakamura sowie "Goldberg-Variationen" nach Johann Sebastian Bach, Choreografie und Kostüme: Heinz Spoerli, Bühne: Florian Etti.