Nobelpreisträgerin Tokarczuk kritisiert ihre Heimat Polen
"Wir hätten niemals erwartet, dass wir immer noch mit Masken hier sitzen", sagte Hagedorn vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), das Gespräch und Lesung mit den Wiener Vorlesungen veranstaltete. Eigentlich hätte der Abend mit Tokarczuk - bekannt unter anderem für ihre Romane "Die Jakobsbücher" und "Ur und andere Zeiten" - schon im September 2020 stattfinden sollen. Wegen Corona verschob man die Veranstaltung.
Nach eineinhalb Jahren Erfahrung mit dem Leben und Schreiben in der Pandemie lenkte Pollack das Gespräch denn auch in diese Richtung. Ob es jetzt, da das Bild des Menschen als Herr über die Schöpfung beschädigt worden sei, nicht auch eine neue Form der Literatur brauche, begann er den Dialog. Tokarczuk, deren Antworten vom Polnischen ins Deutsche übersetzt wurden, plädierte dafür, Sinn in der Pandemie zu finden und sich nicht in Hilflosigkeit stürzen zu lassen. Man könne nicht zurück in eine Welt vor Corona, sondern müsse sich in der neuen Normalität zurechtfinden.
Normalität und Glück scheint Tokarczuk in ihren Texten zu beschreiben. Durch subtile Veränderungen jedoch alles ganz anders werden zu lassen, ist für Hagedorn "Olga Tokarczuks Meisterschaft". Die Schauspieler Steffi Krautz und Markus Meyer lasen in Gesprächspausen unter anderem "Eine wahre Geschichte" aus "Die grünen Kinder. Bizarre Geschichten". Mit Stimmen, die in der Säulenhalle ein Echo zurückwarfen, erzählten sie von einem Professor, dessen Glücksmoment sich zufällig auf groteske und doch komische Weise ins Gegenteil verkehrt, als er einer Frau nach einem Unfall zu Hilfe kommt.
Mit Kritik an der Politik hielten die Schriftsteller nicht zurück. Politiker würden aufgrund der Pandemie Demokratie abbauen und Freiheiten einschränken - dem müsse man als Autor entgegentreten, so Pollack. Auch die Situation in Tokarczuks Heimatland Polen verschlechtere sich. "Nationalismus ist in Polen im Aufschwung", meinte Pollack. Tokarczuk erzählte von ihrer eigenen Sehnsucht nach dem früheren, multiethnischen Polen, die sie auch in "Die Jakobsbücher", worin sie sich mit dem jüdischen Mystiker Jakob Frank auseinandersetzt, verarbeitete.
Dass an der polnisch-belarussischen Grenze zuletzt Flüchtlinge starben, alarmierte beide Autoren. Sie habe viele Protestschreiben unterzeichnet und an vielen Protesten teilgenommen, meinte Tokarczuk, "aber in diesem Moment habe ich eigentlich die Hoffnung verloren, dass das einen Sinn hat." Die Menschen, die diese Protestschreiben erhielten, würden ganz anders denken, die polnische Regierung gar glauben, sie würde sich im Krieg befinden. Alle 20 Jahre seien Polen aus irgendwelchen Gründen geflüchtet, erinnerte sie. "Polen sollte so viele Flüchtlinge aufnehmen, wie es tragen kann."
Tokarczuk, deren neuer Reden- und Essayband "Übungen im Fremdsein" auf Deutsch am 14. Oktober erscheint, wagte im MAK auch eine Vorhersage neuer Literatur-Trends: In der sich in Pandemiezeiten schnell wandelnden Welt ist sie vom Einzug eines neuen Surrealismus in der Literatur überzeugt, genauso wie von einer neuen Relevanz der Science Fiction. Auch Nonfiction stehe hoch im Kurs, da Menschen von den Pandemie-Erfahrungen anderer erfahren wollen würden.
Zusammenfassung
- Als "große Stimme der Weltliteratur", die Polen inzwischen entwachsen sei, stellte Ludger Hagedorn die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk im Wiener MAK vor.
- "Wir hätten niemals erwartet, dass wir immer noch mit Masken hier sitzen", sagte Hagedorn vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), das Gespräch und Lesung mit den Wiener Vorlesungen veranstaltete.
- "Nationalismus ist in Polen im Aufschwung", meinte Pollack.