Neue "Wanderjahre" führen Frank Castorf nun nach St. Pölten
Die Schauspielerin Julia Kreusch - die auch die Hauptrolle im Stück übernimmt - habe sich "in den Text verliebt" und ihn der St. Pöltner Intendantin Marie Rötzer gezeigt. "Und dann fragten sie mich, und mir war das sympathisch. Zunächst dachten wir an einen Monolog als eine Art szenische Lesung, aber dann meinte ich, nein, das machen wir richtig!"
Man habe ihn in Wien verwundert gefragt, was er denn in St. Pölten mache. Castorf sieht das locker: "Ich hab ja auch so angefangen, in Mecklenburg-Vorpommern. Dort in Anklam zu arbeiten war eigentlich eine der wichtigsten und schönsten Erfahrungen. Ich bin ja gerne in Wien und in Österreich, war ja auch letztes Jahr fast ein Dreivierteljahr hier. Es sind wieder so die Wanderjahre, Werthers Lehrjahre, und so mach ich jetzt Station in St. Pölten. Danach den 'Wallenstein' in Dresden, Paris, an der Staatsoper in Hamburg, am Berliner Ensemble - das macht Freude, auch immer wieder neue Menschen kennenzulernen."
Weitere Projekte in Österreich seien zur Zeit noch nicht spruchreif, aber: "Ich hab ja häufig am Burgtheater gearbeitet, und die letzten Erfahrungen auch mit der noch jungen Truppe, die der Martin Kusej versammelt hat, waren angenehm", sagt Castorf. Aktuell sind dort seine Inszenierungen "Zdenek Adamec" von Peter Handke und "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" von Elfriede Jelinek im Repertoire.
Alsbald kommt Castorf dann auf geschichtliche Ereignisse und Zusammenhänge zu sprechen, mit denen er sich intensiv befasst hat: Von Wallenstein, den Glaubenskriegen und der "Magdeburgisierung" ("Die europäische Geschichte ist ein kämpferisches, manchmal sehr tragisches Kapitel") bis zur Ermordung und Vertreibung der Pontos-Griechen 1923 ("ein Genozid wie an den Armeniern 1915") - nicht zuletzt ein zentrales Motiv in "Schwarzes Meer" - und zu den totalitären Systemen bis heute.
Dass sein zwölfjähriger Sohn Mikis, der ebenfalls im Stück mitwirkt und dabei eine Ziege namens Suleika zu bändigen hat, bei seiner Mutter Irina Kastrinidis in Zürich lebt und nicht etwa in Berlin, freut Castorf. Berlin sei eine Stadt, die "gerne sein möchte, was andere Städte sind, wie London, Paris oder New York". Früher, kurz nach dem Mauerfall, habe es eine "wunderbare Aufbruchszeit" gegeben. "Der Regierungssitz hätte für mich in Bonn bleiben können." Von denen, "die jetzt alle in Berlin arbeiten müssen", käme eine "ein bisschen spießige Grundhaltung". Diese Entwicklung "verstimme ihn", so Castorf.
Doch zurück zum Stück "Schwarzes Meer". Eigentlich wollte er kein neues Stück lesen, "erst beim Essen hat sich der Appetit entwickelt, da dachte ich: Das ist richtig gut!" Besonders der "hohe Ton" der griechischen Antike mit seinem Versmaß hat es Castorf angetan. Schon Goethe habe im Faust den Vers gelegentlich nicht korrekt angewendet, aus Absicht, "um die Menschen zu verstören". Erinnerungssplitter, eigene Erfahrungen, persönliche Assoziationen (Castorf erwähnt eine "schwierige private Beziehung" mit Kastrinidis) und die Geschichte der griechischen Vorfahren seien in den Text eingeflossen. "Ohne Häme, ohne Besserwisserei", wie Castorf anerkennend anmerkt.
Ob er in den Text stark eingegriffen habe? "Den chronologischen Zeitablauf des Originals" habe er belassen und sich "relativ zurückgehalten": "Ich hab ein paar Sachen zum Schluss verändert durch grauenvolle historische Dokumente, was in der ganzen Welt passiert, in Ruanda, in Afghanistan, die Hinmetzelung von Frauen, Kindern, Alten. Die Geschichte der Vertreibungen trifft immer Menschen, die nichts dafür können", meint Castorf. Letztlich hätten die Westmächte immer "weggeguckt", weil sie andere macht- und geopolitische Strategien verfolgt hätten.
Gibt es wieder Video-Einspielungen in dieser Inszenierung? Castorf: "Wenn ein Mensch sich in einen Exzess gespielt hat, ist eine Kamera wie ein Instrument der Vivisektion, eine Operation am bloßen Nerv ohne Narkose. Das ist ein operatives Werkzeug, kein illustratives. Dann kann man einen Menschen sehen, der außer sich ist in einer Extremsituation, bevor er wieder kindlich wird, liebevoll, bevor er wieder sagt: Das Leben ist nicht immer schön, aber das einzige, das wir wahrscheinlich haben werden. Man muss nicht sehr alt werden, um ein bisschen weise zu sein."
Kastrinidis habe den Stoff inzwischen zu einer Trilogie erweitert, verrät Castorf. "Sie sitzt da in Zürich und holt die Welt zu sich, hat jetzt auch eine kleine Wohnung in Athen und lernt Griechisch. Mich freut, wenn sie eine Freude hat, zu schreiben." Ob er auch die Fortsetzungen inszenieren würde? "In den nächsten Jahren ist es ein bisschen schwer."
Man könnte Castorfs Ausführungen gerne noch länger lauschen, und er hätte wohl auch noch viel zu sagen. Seinen lustvollen Hang zur Ausführlichkeit bezeichnet er selbstironisch als "verrückt". Aber nebenan wartet der Sohn, der gerade aus Zürich angekommen ist, auch Bühnenbildner Aleksandar Denić hat schon angeklopft, und ein weiteres Interview steht auch noch an. Und so wird man mit einem freundlichen "Tschüß" entlassen.
(Das Gespräch führte Ewald Baringer/APA)
(S E R V I C E - Irina Kastrinidis: "Schwarzes Meer". Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik und Video: Martin Andersson. Mit Julia Kreusch, Mikis Kastrinidis, Sebastian Schimböck. Uraufführung am Landestheater NÖ, St. Pölten, Premiere: 29.1., 19 Uhr. Weitere Vorstellungen: 25.2., 10.3., 16.3., www.landestheater.net)
Zusammenfassung
- Ziemlich entspannt wirkt Frank Castorf (70) beim APA-Interview im Landestheater NÖ in St. Pölten, wo er am Samstag bei der Uraufführung "Schwarzes Meer" von Irina Kastrinidis Regie führt.
- "Direkten Kontakt mit St. Pölten hatte ich bis jetzt nicht", räumt der ehemalige langjährige Intendant der Berliner Volksbühne ein.
- Besonders der "hohe Ton" der griechischen Antike mit seinem Versmaß hat es Castorf angetan.
- (Das Gespräch führte Ewald Baringer/APA)