Manns "Zauberberg" wird zum Hundertsten ausgiebig gefeiert
Ob im deutschen Original oder unter Titeln wie "The Magic Mountain", "La montaña mágica" oder "La montagna incantata" hat der Epochenroman eine weltweite Fangemeinde. Nun ist es 100 Jahre her, dass er 1924 erschien. 2024 steht also im Zeichen des Jubiläums. In Lübeck, wo der Autor 1875 zur Welt kam, lässt das Buddenbrookhaus im Jänner ein großes Jubiläumsprogramm mit einer Ringvorlesung, Konzert-, Film- und Diskussionsveranstaltungen anlaufen. Manns Verlag S. Fischer plant im Herbst ein Sonderheft der "Neuen Rundschau", in dem sich zeitgenössische Autorinnen und Autoren zum Roman äußern. Und auch im Thomas Mann House in Pacific Palisades im fernen Kalifornien, wo der 1929 zum Nobelpreisträger Gekürte zehn Jahre im Exil lebte, kommt der "Magic Mountain" aufs Programm. Es ist ein Zeitroman, der vor dem Ersten Weltkrieg spielt, uns aber auch heute noch viel zu sagen hat.
Worum geht es? Wir schreiben das Jahr 1907: Der frischgebackene Ingenieur Hans Castorp reist im Sommer für drei Wochen von Hamburg in die Schweizer Alpen, um seinen tuberkulosekranken Vetter Joachim Ziemßen im Sanatorium bei Davos zu besuchen. Doch der morbide Charme der von Hofrat Behrens geleiteten Anstalt verzaubert ihn, er bleibt dort hängen. Am Ende werden aus drei Wochen sieben Jahre, die er "bei Denen hier oben" verbringt.
Zwei Intellektuelle wollen auf den jungen Mann Einfluss nehmen: der italienische Humanist und Freimaurer Lodovico Settembrini und dessen ideologischer Widerpart, der erzreaktionäre Jesuit Leo Naphta. Mit der mysteriösen Russin Clawdia Chauchat verbringt Hans eine Liebesnacht, die im Roman nur angedeutet wird. Er erlebt, wie sein Vetter Joachim und andere Hausbewohner an der Schwindsucht sterben. Für ihn wird es gefährlich, als er sich in einem Schneesturm verirrt, Halluzinationen bekommt und nur mit Mühe zum Berghof zurückfindet.
Eingehüllt in Wolldecken verbringen die Bergbewohner ihre Tage mit Liegekuren auf den Balkonen zwischen täglich fünf Mahlzeiten im hierarchisch streng gegliederten Speisesaal mit seinen sieben Tischen. Die Zeit verrinnt, aus Tagen werden Monate, aus Monaten Jahre, bis 1914 "Der Donnerschlag" erschallt, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die illustre Runde der im Schnee abgekapselten Welt löst sich auf, jeder zieht seines Weges, Hans Castorps Spur verliert sich auf den Schlachtfeldern Flanderns.
Lange her, mag man sagen. Doch abgesehen davon, dass der "Zauberberg" mit seinen grandiosen Landschaftsbeschreibungen, den markanten Charakteren, den großartigen Dialogen und Thomas Manns feiner Ironie ein Lesevergnügen ist, enthält er viele zeitlose Motive: Krankheit und Tod, Erotik, Persönlichkeit, das Wesen der Zeit, die geistigen Grundlagen Europas, der Widerstreit zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden. Bei Mann sind es der Aufklärungsoptimist Settembrini und der mit Faschismus wie Kommunismus gleichermaßen sympathisierende Naphta, die sich endlose Dispute liefern - und sich am Ende duellieren. Heute sind es Fundamentalismen verschiedener Art, die Meinungs- und Kunstfreiheit bedrohen.
Ein Zeitroman ist der "Zauberberg" übrigens in zweifacher Hinsicht. Zum einen bietet er als Epochenroman ein Panorama der untergehenden Vorkriegsgesellschaft. Zum anderen ist es ein Roman über das individuelle Erleben der Zeit. In dem eigenartigen Zwischenreich des Berghofs verlieren Castorp und Co. das Zeitgefühl. Auch die Erzählstruktur des Romans spielt mit dem Faktor Zeit, die Handlung beschleunigt sich, je weiter man kommt. Während die erste Hälfte des Textes - sprich 500 Seiten - nur die sieben Monate seit Castorps Ankunft behandelt, verdichten sich in der zweiten Hälfte sechs Jahre.
Thomas Mann hat sich übrigens viel Zeit gelassen mit dem Buch. Im Juli 1913 fing er an, wollte eigentlich nur eine Novelle als heiteres Gegenstück zum "Tod in Venedig" schreiben, nachdem er die Schweizer Sanatoriumswelt während eines Kuraufenthalts seiner Frau Katia kennengelernt hatte. Nach Kriegsbeginn unterbrach er die Arbeit, verfasste rechtslastige Essays wie "Gedanken im Kriege" und "Betrachtungen eines Unpolitischen". Erst ab 1919 schrieb er am "Zauberberg" weiter, der im November 1924 in die Buchläden kam. In der Zeit wandelte sich Thomas Mann vom Monarchisten, der den Krieg 1914 bejubelte, zum überzeugten Verteidiger der Weimarer Republik. Mit seinen Radiosendungen "Deutsche Hörer!" aus dem amerikanischen Exil wurde er später zum Gegenspieler Adolf Hitlers.
Die weltweite Auflage des "Zauberbergs" ist nicht bekannt, doch gibt es Übersetzungen in 27 Sprachen, darunter alleine fünf auf Englisch und drei auf Portugiesisch. Generationen von Schriftstellern hat er geprägt. "Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie "Der Zauberberg"", sagte die US-Autorin Susan Sontag (1933-2004) bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2003.
Zusammenfassung
- Ein Buch zu dick zum Lesen? Tausend Seiten Text und allein die Taschenbuchausgabe mehr als ein halbes Kilo schwer - so kommt er daher, "Der Zauberberg" von Thomas Mann. Manchem Leser ist beim Aufstieg ins literarische Hochgebirge die Luft ausgegangen. Doch wen der Lesesog packt, den lässt die Zeitreise in die schneeverwehte Welt der Schweizer Berge, ins Luxussanatorium "Berghof" mit seinen verschrobenen Bewohnern, ein Leben lang nicht mehr los.