"L'Étang": Teenager-Kummer in Zeitlupe bei ImPulsTanz
Der Schweizer Walser schrieb das Dramolett 1902, also in seinen frühen Zwanzigern, für seine Schwester in Bernerdeutscher Mundart. Sie machte den wenige Seiten langen Text erst Jahre nach dem Tod ihres Bruders öffentlich. Und es dauerte bis 2004, bis der österreichische Autor Händl Klaus den Text gemeinsam mit Raphael Urweider in die Hochsprache übertragen und ihn somit dem deutschsprachigen Raum gewissermaßen zugänglich gemacht hat. Vienne, deren Mutter aus Saalfelden stammt, hat für ihre Bühnenversion aus dem ein knappes Dutzend Rollen umfassenden Familiendrama eine Zwei-Personen-Performance destilliert, die sich nur lose am Originaltext orientiert. Sie hatte im November 2020 im französischen Rennes Premiere und war hierzulande erst im Vorjahr bei den Wiener Festwochen zu sehen.
Wie schon damals verkörpert die Schauspielerin Adèle Haenel, Jahrgang 1989, den Teenager Fritz, der sich vermeintlich im Teich ertränkt, und alle anderen Kinderfiguren in virtuoser Zerbrechlichkeit. Den Part der Erwachsenen übernimmt diesmal die Tänzerin Julie Shanahan, deren Eiseskälte beeindruckt. Am Anfang dominieren jedoch sieben Puppen die Szenerie. Sie sitzen und liegen in dem nur mit einem ungemachten Bett möblierten und grell erleuchteten White Cube, der zugleich den Bühnenraum markiert. Nachdem ein Backstage-Bediensteter sie zu lauter Ravemusik eine nach der anderen weggetragen hat, folgt der Auftritt der Darstellerinnen in Fleisch und Blut.
Getanzt wird bei "L'Etang" ebenso wenig wie Theater gespielt. Es ist mehr eine szenische Performance mit einem markanten Stilmittel, das von Anfang bis Ende durchgehalten wird: Die beiden Frauen sprechen zwar in normalem Tempo, bewegen sich aber ausnahmslos in Slowmotion - ein irritierender wie effektiver Kniff, der dem körperlichen Ausdruck einer inneren Versehrtheit vor allem der Hauptfigur große Intensität verleiht. Wo Fritz auch immer in seinem jugendlichen Kummer nach Zuneigung und Verständnis sucht - bei den Eltern, der Schwester Klara oder Freunden -, stößt er auf Zurechtweisung, Verhöhnung und Gewalt bis hin zum (inzestuösen) Missbrauch.
Die weiße Bühnenbox spielt zwar nicht alle Stückln, aber immerhin alle Farben von Lavaorange bis Nachtblau. Auch in Sachen Sounddesign ist alles darauf angelegt, das Innere nach Außen zu kehren. Das Atmen, Schmatzen und Keuchen der Darstellerinnen wird über Mikrofone stark verstärkt, die Stimmen teils mit Hall belegt oder zum Kreatürlichen verzerrt. Dazu sorgen übereinandergelegte dissonante Klangflächen immer wieder für ein Dröhnen, Beben oder sirenenhaftes Geheule nahe an der Schmerzgrenze - ein bedrohlicher Soundtrack irgendwo zwischen Psychothriller und drogeninduziertem Höllentrip.
Es ist ein intensiver, atmosphärisch dichter eineinhalbstündiger Abend mit viel Interpretationsspielraum, der sich im letzten Drittel vielleicht etwas zu sehr in Zeitlupe seinem Ende nähert. Aber womöglich liegt es auch nur am Wunsch, das quälende Unbehagen, das von diesem Stück ausgeht, möge endlich vorbei sein.
(S E R V I C E - ImPulsTanz: Gisèle Vienne: "L'Étang (Der Teich)" nach Robert Walser. Konzept, Regie, Bühnenbild, Dramaturgie: Gisèle Vienne. Textadaption: Adèle Haenel, Julie Shanahan, Henrietta Wallberg. Mit Adèle Haenel und Julie Shanahan. Licht: Yves Godin. Musik: Stephen F. O'Malley und François J. Bonnet. Englisch mit deutschen Übertiteln. Empfohlen ab 14 Jahren. Weitere Aufführung: 15. Juli, 21 Uhr, in der Halle G im Museumsquartier. www.impulstanz.com)
Zusammenfassung
- Vielleicht weint ja doch jemand um ihn.
- Getanzt wird bei "L'Etang" ebenso wenig wie Theater gespielt.