"Dornröschen" im Stachelgarten: Ballett in der Staatsoper
Mit seiner "Schwanensee"-Version gelang Schläpfer vor vier Jahren mit dem Ballett am Rhein ein zeitgenössischer Klassiker als Neuinterpretation des großen Repertoires. Seine expressive Tanzsprache lebt vom Spannungsfeld aus traditionellem, abstrahiertem Vokabular und heutigem, unmittelbarem Körpertheater - und sie ist am stärksten dort, wo sie dieses Spannungsfeld überdehnt, verdreht und mit aller Physis durchmisst. Das zweite Idealwerk von Pjotr Iljitsch Tschaikowski und Marius Petipa, "Dornröschen", hat in der Erarbeitung mit seiner Wiener Compagnie nun deutlich zahmere, gefälligere, auch beliebigere Resultate gebracht.
Akzente werden da gesetzt, wo sie der Charakterzeichnung dienen, auch wenn es um Nebenfiguren geht. König und Königin erhalten so etwa menschlich und tänzerisch Präsenz (Olga Esina und Masayu Kimoto), Catalabutte (Jackson Carroll) und Carabosse (Claudine Schoch) erzählen emotionale Geschichten in kurzen Auftritten. Den im Original nur eine Umbaupause währenden Dornröschenschlaf verlängert Schläpfer durch eine neue, meditative Szene zu Musik von Giacinto Scelsi und eröffnet dabei mit wenigen raschen Momenten eine zusätzliche Dimension, ein wunderliches Reich der Natur, der Zeit und der Stille, das von Waldfrau und Faun (wunderbar: Yuko Kato und Daniel Vizcayo) bevölkert wird.
Mutige Einschnitte, subversive Kommentare oder eine Schärfung der tradierten Logik des Handlungsballetts muss man im restlichen Abend zwischen Blütenwald und Stachelgarten mit der Lupe suchen. Schläpfers Arbeiten entstehen stets im engen Dialog mit den Tänzerinnen und Tänzern - im großen Panorama der Compagnie werden dabei große Unterschiede in der Detailschärfe, in der Originalität und Erzählkraft sichtbar. Dieses "Dornröschen" will für alle etwas bieten - vom Technik-Schaulauf im bravourösen Pas de deux (Feierstunde für Aurora Hyo-Jung Kang und ihren Prinz Desiré Brendan Saye sowie für das Vogelpärchen Davide Dato und Kiyoka Hasimoto) bis zur zauberischen Charmeoffensive der bunten Märchengestalten. Eine große Erzählung mit einer konsistenten emotionalen Wahrheit kommt dabei aber nicht zustande.
Viel Zustimmung seitens des Premierenpublikums gab es für die Solistinnen und Solisten sowie für das Staatsopernorchester, dazu aber neben allgemeiner Akklamation auch deftig geäußerten Unmut für die Choreografie.
(S E R V I C E - "Dornröschen" von Martin Schläpfer, Piotr Iljitsch Tschaikowski und Marius Petipa. Musikalische Leitung: Patrick Lange, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Catherine Voeffray. Wiener Staatsballett. Weitere Termine in der Wiener Staatsoper am 26. Oktober, 1., 4., 7., 12., 20. November, 21., 23., 27., 29. Dezember. www.wiener-staatsoper.at)
Zusammenfassung
- Die Prinzessin schläft seit hundert Jahren, die Dornen wuchern, die Waldwesen laden zum Tanz.
- An der Wiener Staatsoper wurde am Montagabend ein neues "Dornröschen" erweckt: Ballettdirektor Martin Schläpfer legte mit der abendfüllenden Uraufführung eine behutsame Aktualisierung des Märchenklassikers von Tschaikowsky und Petipa vor.
- Weitere Termine in der Wiener Staatsoper am 26. Oktober, 1., 4., 7., 12., 20. November, 21., 23., 27., 29. Dezember.