"Die Scham": Volkstheater zeigt Ernauxs Trauma im Dunkeln
Als "Ethnologin meiner selbst", wie sie sich auch im Volkstheater bezeichnen sollte, erkundet sich Ernaux in ihren autofiktionalen Texten, spürt eigenen Erinnerungen nach. Eine davon, mit der die Scham, die sie fühlt, beginnt, ist eine besonders schmerzliche: Denn kurz vor ihrem zwölften Geburtstag, im Jahr 1952, habe ihr Vater versucht, ihre Mutter mit einem Beil umzubringen. Und auch danach bleibt die Scham ein Teil des Lebens der jungen Annie Ernaux, die mit ihrer Klassenzugehörigkeit hadert.
Sie berichtet über wohl für fast alle Heranwachsenden gültige Überlegungen: die Verbundenheit mit dem Heimatort, die kritische Beschäftigung mit dem eigenen Körper, das Interesse an der Sexualität. In diese mischen sich Erinnerungen an die teils traumatische, von starren Regeln geprägte Zeit in der katholischen Privatschule und im Kreise der Familie.
Tiefenbachers Part ist dabei kein einfacher, resultierte die enge Orientierung an der Romanvorlage doch in einem rund 70-minütigen Monolog. Die Schauspielerin redet sich in Rage, sodass sich bestehende Textunsicherheiten bei der Premiere fast natürlich in die Vorstellung einfügen. Ihr intensives Spiel lässt sich - wohl auch aufgrund der Nähe des Publikums zum Geschehen in der kleinen Dunkelkammer - beinahe am eigenen Körper spüren. Als Annie Ernaux erinnert sie sich zitternd an schwierige Ereignisse, kriecht unter den Tisch oder schwenkt eine helle Rotlichtlampe.
Überhaupt darf der Spielort "Dunkelkammer" in "Die Scham" als echte, durchgängig in rotes Licht getauchte Dunkelkammer fungieren, wodurch die Inszenierung vom Einblick in Ernauxs Schaffen erst zu einem besonderes Erlebnis wird. Fotografin Franzi Kreis entwickelt an der Wand großformatige Fotos eines Mädchens, die Ernauxs Jugend widerspiegeln, und wirft Tiefenbacher dabei stumme, kommentierende Blicke zu. Die sich während des Stücks aufbauende und durch die Lichtstimmung verstärkende Elektrizität wird nur von Kreis' Fotowagen durchbrochen, den sie über die Bühne schiebt, um wieder ein neues Bild - eine neue Erinnerung - freizulegen.
(S E R V I C E - "Die Scham" nach dem gleichnamigen Roman von Annie Ernaux. Regie: Ed. Hauswirth, Fotografie und Foto-Installation: Franzi Kreis, Kostüm: Mona Ulrich, Musik: Florian Kmet, Dramaturgie: Matthias Seier. Mit: Friederike Tiefenbacher. Dunkelkammer des Volkstheaters Wien, Weitere Vorstellungen am 3., 13., 18., 23. und 26. November. www.volkstheater.at)
Zusammenfassung
- In ihrem Roman "Die Scham", der am Samstagabend im Volkstheater als Monolog auf die Bühne gebracht wurde, bringt die Französin mit ihrer klaren Sprache Erinnerungen aus ihrer Kindheit und damit einer wohl dunkleren Zeit ihres Lebens ans Licht.
- Den Namen des Spielorts - "Dunkelkammer" - interpretierte der Grazer Regisseur Ed. Hauswirth wörtlich.
- Dunkelkammer des Volkstheaters Wien, Weitere Vorstellungen am 3., 13., 18., 23. und 26. November.