"Der feurige Engel" hob im Theater an der Wien ab
Breth nimmt der Geschichte mit ihrer Regieentscheidung nämlich eben das, was sie eigentlich auszeichnet: Die Mehrdimensionalität der Deutung, die flirrende Ambivalenz zwischen den Figuren. Schließlich ist der 1927 fertiggestellte "Feurige Engel" ein wirres, krudes, rohes Stück, dessen Zauber auf der Ebene des Librettos darin begründet liegt, dass erratisch und vieldeutig bleibt, welcher der Protagonisten was imaginiert.
Entspringt die Überzeugung der Hauptfigur Renata, seit Kindheit von einem Engel begleitet zu werden, der sie verlassen hat, weil sie ihn auch sexuell begehrte, letztlich einem Trauma, einem Missbrauch? Oder ist das im Mittelalter angesiedelte Geschehen eine Psychose des zweiten Protagonisten Ruprecht, der sich Renata als Sehnsuchtsobjekt imaginiert? Oder gebiert der Schlaf der Vernunft hier ganz reale Ungeheuer des religiösen Eifers?
Diese Fragen stellen sich freilich nicht, wenn ohnedies alle Figuren Insassen einer Psychiatrie sind. Abgesehen von der daraus notwendigerweise folgernden Verflachung des Zugangs, hat dieser Regieeinfall aber zweifelsohne eine Logik in sich und ist mit herausragender Personenführung stimmig durchchoreografiert. Dank einer Truppe an Sängerschauspielern bis hin in die Nebenrollen gelingt das Kunststück, Psychiatrieinsassen ohne billigen Mummenschatz darzustellen.
Andrea Breth schafft mit ihrem Bühnenbildner Martin Zehetgruber dabei wieder einmal ein Symphonie in Grau, der die märchenhaften oder historischen Aspekte entzogen sind. Das Duo entwirft eine Psychiatrie aus alten Zeiten mit kahlen Wänden, Metallbetten, blanken Matratzen und Zwangsanwendungen. Das dient einerseits als zurückgenommene und im kleinen Bereich überraschend wandelbare Spielfläche, die zugleich blutleer daherkommt - bis zum Schlussbild. Am Ende gelingt in der finalen Klosterszene dann doch das im wahrsten Sinne herausragende Bild eines bühnenportalhohen Turms aus Metallbetten, auf dem sich die Nonnen im pandämonischen Finalchor versammeln. Ein starkes Ende und eine in sich wuchtige visuelle Metapher, die der musikalischen Wucht standhält.
Schließlich hat Prokofjew für "Der feurige Engel" ein groß instrumentiertes Werk geschaffen, das tonale Passagen mit starken Dissonanzen als Hinleitung auf die Brüche der Charaktere kombiniert. Fragmentarische Kommentare werden immer wieder als Subtext zum Bühnengeschehen gesetzt, satirisches Zitat gegen die Urgewalt eines mächtigen Klangapparats gestellt, wie der Komponist sie bereits zehn Jahre zuvor bei der "Skythischen Suite" entfesselt hatte. Dieser Wechsel zwischen kleinen Klanginseln und großem Bogen gelingt dem RSO unter Constantin Trinks herausragend.
Mit die größte Leistung ist es dabei, die Sängerinnen und Sänger nicht hinter der Klangwand verschwinden zu lassen. Allerdings tragen auch diese ihr nicht geringes Scherflein dazu bei, hat man mit Aušrinė Stundytė doch die "Elektra" der vergangenen Salzburger Festspiele gewonnen. Die Litauerin, die die Partie der Renata bereits aus Zürich in der Regie von Calixto Bieto kennt, schafft es, die herausfordernde Rolle zu singen und dabei die Kindsfrau im Borderlinegestus mit epileptischen Krämpfen zu spielen. Ihr zur Seite als Ruprecht kann Stammgast Bo Skovhus erneut einen starken Mann mit Brüchen präsentieren.
Und doch wird diese Leistungen nach der geschlossenen Aufzeichnungspremiere vor weitgehend leerem Haus wohl für längere Zeit niemand zu sehen bekommen. Die Gespräche über die noch für die erste Jahreshälfte angedachte TV-Ausstrahlung laufen noch. Fix ist aber immerhin, dass man sich diesen "Engel" erhören kann: Ö1 strahlt den Mitschnitt am 27. März ab 19.30 Uhr aus.
(S E R V I C E - "Der feurige Engel" von Sergei Prokofiew im Theater an der Wien, Linke Wienzeile 6, 1060 Wien. Musikalische Leitung des RSO: Constantin Trinks, Inszenierung: Andrea Breth, Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Carla Teti. Mit Renata - Aušrinė Stundytė, Ruprecht - Bo Skovhus, Wirtin/Äbtissin - Natascha Petrinsky, Wahrsagerin - Elena Zaremba, Agrippa/Mephistopheles - Nikolai Schukoff, Inquisitor - Alexey Tikhomirov, Mathias/Faust - Markus Butter, Glock/Arzt - Andrew Owens, Wirt/Knecht - Kristján Jóhannesson. Übertragung in Ö1 am 27. März ab 19.30 Uhr.)
Zusammenfassung
- Sergei Prokofjews selten gespielter, psychisch aufgeheizter "Feuriger Engel" ist ein Werk, das in seinem übersteigerten Charakter von der Offenheit lebt, ob man hier einer Psychose oder religiöser Erleuchtung beiwohnt.
- Schließlich hat Prokofjew für "Der feurige Engel" ein groß instrumentiertes Werk geschaffen, das tonale Passagen mit starken Dissonanzen als Hinleitung auf die Brüche der Charaktere kombiniert.