Berlinale: "I'm not Everything I Want to Be" als Fotoautobio
Von einem Film im technischen Sinn kann man bei dieser tschechisch-slowenisch-österreichischen Produktion von Klára Tasovská eigentlich gar nicht sprechen. Es ist vielmehr eine künstlerisch gestaltete Diashow, der aber nicht nur die dazu passenden Hintergrundgeräusche das Kinoerlebnis vermitteln. Jarcovjáková hat so oft den Auslöser betätigt, dass manche Sequenzen den Eindruck bewegter Bilder entstehen lassen.
Als die aus einer Prager Künstlerfamilie stammende, erst spät international entdeckte Fotografin mit 16 ihren Berufswunsch äußert, wird das Jahr 1968 geschrieben. Sowjetische Panzer rollen in die Tschechoslowakei. Ihre Fotos von Panzern dokumentieren kurz die Niederschlagung des Prager Frühlings. "Die Tschechoslowakei ist nach der Invasion umgeben von Stacheldraht", sagt Jarcovjáková.
Einen Hochschulzugang verwehrt ihr das Regime. Sie nimmt eine Arbeit in einer Druckerei an. "Warum kann ich nicht das Leben leben, das ich möchte", fragt sie und dokumentiert fotografisch ihr Berufsumfeld. Als der Staatsapparat ihre wenig schmeichelhaften Milieustudien aus der von der KP hochgelobten Arbeitswelt wahrnimmt, verbietet er ihr weitere fotografische Tätigkeiten im Betrieb. Tristesse dominiert den Alltag der jungen Frau: Besäufnisse in gleichgesinnter Runde, Affären, Schwangerschaften mit Abbrüchen.
Über eine Freundin, die nach Japan geheiratet hat, erreicht Jarcovjáková 1979 eine Einladung nach Tokio. Deren Mann scheint der Erste und auf lange Sicht Einzige zu sein, der ihr künstlerisches Talent erkennt. Plötzlich nimmt die bisher schwarz-weiße Abfolge zögernd Farbe an. Doch Jarcovjáková fühlt sich einsam in Japan. Nach zwei Monaten kehrt sie in die Tschechoslowakei zurück, fotografiert nächtens in der Schwulenbar T-Club.
Über eine arrangierte Hochzeit kann die junge Frau nach Westberlin emigrieren, arbeitet dort als Kinoreinigerin und fühlt sich wieder "ungeheuer traurig". Noch einmal reist sie nach Tokio, hat dort erstmals beruflich großen Erfolg, doch die Modefotografie ist ein rein kommerzielles Gewerbe. Nach dem Ende des Kommunismus kehrt sie in ihre Heimat zurück.
Jarcovjákovás fotografisches Tagebuch erzählt mühelos und ungeschönt ein Berufsleben. In nahezu jeder Lebenslage und fast obsessiv betätigte die Künstlerin den Auslöser. Ob es die Bilder des tristen Prag als Zeitzeugen einer untergegangenen Epoche sind, Alltagsaufnahmen in besonderer Perspektive oder Anordnung, die ganze Geschichten erzählen, ob es die Fotos des geteilten Berlins als Absurdität einer Epoche sind, die unzähligen Schnappschüsse alkoholgetränkter Feiern und deren am Ende erledigter Teilnehmer, die vielen mutig entblößenden und entblößten Selbstporträts einer unglücklich Suchenden und sich selbst Betäubenden - der schier unerschöpfliche Fundus von Fotos macht aus dem Leben von Libuše Jarcovjáková eine filmische Biografie ohne weitere Hilfsmittel zu benötigen.
(Von Stefan May/APA)
(S E R V I C E - www.berlinale.de/en/2024/programme/202403155.html)
Zusammenfassung
- Die tschechische Fotografin Libuše Jarcovjáková wusste schon mit 16, dass sie Fotografin werden möchte; ihr Lebensweg und künstlerisches Schaffen werden im Berlinale-Beitrag 'I'm not Everything I Want to Be' nachgezeichnet.
- Trotz politischer Repressionen und persönlicher Rückschläge, wie dem Verbot ihrer Arbeit in einer Druckerei, dokumentierte sie konsequent ihr Umfeld und wurde erst spät international anerkannt.
- Jarcovjákovás Werk umfasst sowohl die Zeit des Prager Frühlings als auch das Leben im geteilten Berlin und Tokio, wobei ihre Fotos oft ein Gefühl von Einsamkeit und Suche nach Identität widerspiegeln.