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Ali Smiths neuer Roman "Gefährten" ist große Literatur

Nein, das Boothby-Schloss, ein kompliziertes und wunderbar verziertes Truhenschloss, das Kunsthistorikern als Beweis für die Blüte der englischen Schmiedekunst in Spätmittelalter und Frührenaissance gilt, gibt es offenbar nicht. Man hätte schwören können, dass Ali Smith den Beginn ihrer "Gefährten" der Wirklichkeit entnommen hat, so wie die Pandemie, die die Handlung überschattet. Doch am Ende weiß man nicht einmal, ob alles nicht nur der Fantasie der Erzählerin entstammt.

Die 60-jährige Schottin Ali Smith, 2022 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet, ist eine Zauberin. Sie zeigt jene Instrumente, mit denen sie Illusionen erzeugt, offen her. Es sind Elemente aus Kunst-, Literatur- und Sozialgeschichte, es ist unglaubliches Einfühlungsvermögen in Menschen jeder Zeit und jeden Standes, und es ist Sprache, der sie einen großen Einfluss auf alles und jeden zuschreibt - auf die Eigen- und die Fremdwahrnehmung, auf die Orientierung und Positionierung von Menschen, kurzum, auf alles, was das Leben unsere Spezies eben ausmacht. Man sieht ihr wie bei einer Magierin genau auf die Finger - und weiß am Ende doch nicht, wie sie es geschafft hat, einen zu verzaubern und mitzunehmen.

So mitzunehmen nämlich, dass Szenen und Handlungselemente, die sich in der Nacherzählung lesen, als stammten sie von Dan Brown oder von Joanne K. Rowling, eine Wirkung entfalten, bei der man bereit ist, trotz aller Fantastik ganz in sie einzutauchen - obwohl man keinen blassen Schimmer hat, was Ali Smith eigentlich erzählen will. Das betrifft bei dem Roman "Gefährten", mit dem die Autorin nun nahtlos an ihre gefeierte Jahreszeitentetralogie anschließt und der ein Jahr nach Erscheinen des Originals nun in deutscher Übersetzung vorliegt, nicht nur die Anfangsszene.

In der meldet sich eine ehemalige Kommilitonin der Ich-Erzählerin Sandy Jahrzehnte nach dem gemeinsamen Studium, in dem sie bis auf ein einziges Mal nie miteinander zu tun hatten, um ihr eine verrückte Geschichte zu erzählen: Als Kuratorin eines Museums mit dem Rücktransport des Boothby-Schlosses aus einer Ausstellung im Ausland beauftragt, wurde sie von Grenzbeamten stundenlang festgehalten und hörte in dem vollständig isolierten Verhörzimmer beim Betrachten des Schlosses plötzlich eine Stimme: "Curlew oder curfew - Du entscheidest."

Der Trick mit dem Konsonantenwechsel funktioniert nur im Original, weswegen sich Übersetzerin Silvia Morawetz auch dazu entschlossen hat, die Worte englisch zu belassen. Curlew ist der Brachvogel mit einem extrem langen, spitzen, gebogenen Schnabel. Curfew ist aber nicht nur die Sperrstunde, wie es die Übersetzung gleich anbietet, sondern auch die Ausgangssperre - und damit sind wir mitten in einem der Hauptthemen des Buches: der sozialen Isolation.

Diese macht der Erzählerin, einer Malerin, die Gedichte malt, indem sie jedes Wort einzeln in Farbe übersetzt und Schichte um Schichte übermalt (dass sie seit Beginn der Pandemie an der malerischen Übersetzung eines Gedichts von Dylan Thomas arbeitet, in dem der Brachvogel eine große Rolle spielt, ist eine der vielen intellektuellen Pointen des Buches), sehr zu schaffen. Ihr alter Vater wurde mit schweren Herzproblemen ins Spital eingeliefert und liegt nun isoliert auf einer Station, auf der er nicht besucht werden darf, während sie sich um seinen ebenfalls bereits betagten Hund kümmern muss.

Der Anruf der Schlosstransporteurin Martina, die sich wegen der unerklärlichen Stimmen an ihre Ex-Mitstudentin wandte, die sie für den schlauesten Kopf hält, der ihr jemals begegnet war, schließt für beide Frauen ein Schloss auf, hinter dem weitere erstaunliche und unheimliche Geschichten warten. "Gefährten" ist ganz klar auch eine Emanzipationsgeschichte - und diese führt zu einem Besuch aus der Vergangenheit. Die junge, verwahrloste Einbrecherin, die Sandy eines Tages bei sich zu Hause überrascht, könnte ausgerechnet die Kunstschmiedin des Boothby-Schlosses sein, die schon vor Jahrhunderten den Männern in die Quere geriet und deshalb mit einem großen V am Hals gebrandmarkt wurde. V wie Vagabundin. Vagantin. Verbrecherin. Vieh. Aber auch wie Virus. Vakzin. Oder: virtuell. Worte sind alles, was wir haben, sagt die überschlaue Sandy, deren vermeintliche Neunmalklugheit, die nichts anderes als Neugier gepaart mit großer sprachlicher Sensibilität war, schon als Kind ihren Vater verärgert hat. Und Worte können alles.

Mit Worten werden auch harte Gefechte ausgefochten, als eines Tages Martinas Kinder vor der Türe stehen und sich beschweren, ihre Mutter sei seit dem Kontakt mit Sandy ganz verändert, wohl verführt von der lesbischen Malerin. Sie wollen ihre alte Mum wiederhaben, die nüchterne, graue, nicht die heitere, fantasievolle, unberechenbare, die sie seither ist, seit ihr das Schloss und mit ihm das Licht aufgegangen ist. Es sind unheimliche Begegnungen wie aus einem Psychothriller, und dass eines der beiden Mädchen dabei ist, seine Cis-Identität aufzugeben (und deswegen Krach mit ihrem Vater hat), ist Teil jenes Generationenkonfliktes, den Ali Smith offenkundig dabei bearbeitet.

Am Ende wissen wir weder, ob sich die Malerin all' diese seltsamen "Gefährten" bloß ausgedacht hat, um die Lockdowns und die Angst um den Vater zu überstehen, noch, was es mit dem Boothby-Schloss und den seltsamen Stimmen wirklich auf sich hat. Aber wir wissen, dass Ali Smith uns erneut viel über die Ängste und Konflikte unserer Zeit erzählt und dabei einen großen Bogen zwischen Realität und Fantasie, Gegenwart und Vergangenheit gespannt hat. Erneut hat sie uns gezeigt, was große Literatur alles vermag.

(S E R V I C E - Ali Smith: "Gefährten", Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand Literaturverlag, 256 Seiten, 24,70 Euro)

ribbon Zusammenfassung
  • Man hätte schwören können, dass Ali Smith den Beginn ihrer "Gefährten" der Wirklichkeit entnommen hat, so wie die Pandemie, die die Handlung überschattet.
  • Doch am Ende weiß man nicht einmal, ob alles nicht nur der Fantasie der Erzählerin entstammt.
  • Erneut hat sie uns gezeigt, was große Literatur alles vermag.
  • (S E R V I C E - Ali Smith: "Gefährten", Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Luchterhand Literaturverlag, 256 Seiten, 24,70 Euro)