Von oben herab, von unten hoch hinauf: Die unsichtbare Mauer zwischen Nord- und Süditalien
Italien ist ein Stiefel. So weit, so bekannt. Und was macht einen stabilen Stiefel aus? Eine starke Sohle, belastbare Anziehschlaufen und robuste Nähte, die alles zusammenhalten. Fehlt die Sohle, gibt es keinen Stiefel.
Von polentoni bis terroni
Mit Medizinbuch, einem Schreibblock und einem Laptop unter dem Arm, trifft Jacobo mich in einem Mailänder Lokal. Er bestellt für uns Kaffee und Cannoncini, mailändisches Feingebäck. Jacobo kommt ursprünglich aus Venetien. Vor fünf Jahren ist er nach Mailand gezogen, um hier Medizin zu studieren.
"Jacobo, hast du das Gefühl, dass es so etwas wie eine unsichtbare Mauer zwischen dem Norden und Süden Italiens gibt?"
"Nein", antwortet er. "Ich denke, dass sie sehr sichtbar ist!"
"Sie nennen uns Polentone, wir nennen sie Terroni." (Anm: Begriffe*)
Den Süden zu verlassen, auch wenn die Zukunft vielversprechender ist als in der Heimat, das könnte sich die Medizin-Studentin Ana-Teresa niemals vorstellen.
Sie ist in Neapel geboren, aufgewachsen und möchte auch dort bleiben.
Ich treffe die 25-jährige in einem hippen, neapolitanischen Stadtviertel, in dem viele Jugendliche ihre Abende verbringen. Primär, um Aperol Spritz aus Plastikbechern zu trinken. Dieser kostet hier einen Euro. Nein danke, sie nehme keinen, sie müsse diesen Monat sparen.
Ob Anna-Teresa Neapel je verlassen würde? Um nach beispielsweise Mailand zu ziehen?
"Nooo!" Anna Teresa gestikuliert stark. Auf keinen Fall. "Was mache ich dort? Dort herrscht kein Leben!"
"Eigentlich will ich gar nicht so schlecht über den Norden reden. Aber die haben begonnen. Die haben begonnen uns faul zu nennen. Die haben begonnen zu sagen, wir würden nicht arbeiten", erzählt mir die 25-jährige Medizinstudentin. Dieses Jahr wird sie fertige Ärztin sein. "Die haben begonnen, uns Terroni zu nennen", ihre Stimme überschlägt sich.
Terroni ist ein Begriff, den ich noch öfter auf meiner Reise hören werde. Wie von der 26-jährigen Giulia, deren Familie aus Sizilien stammt. Als Giulia vier Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach Turin, einer wohlhabenden Gegend im Norden Italiens. Schon in Volksschul-Zeiten haben ihr Bruder und sie dort sehr unter dem Stigma gelitten, dass sie sizilianische Vorfahren haben. Sie erzählt mir von einem Erlebnis in ihrer Kindheit, das sie bis heute beschäftigt: Der damalige beste Freund ihres Bruders hat eines Tages gesagt, sie könnten nicht mehr befreundet sein. Weil er ein Terroni sei.
Im Norden florieren Industrieregionen wie die Lombardei, Emilia-Romagna und Venetien. Wohlstand und Innovation bestimmen hier den wirtschaftlichen Alltag. Der Lebensstandard ist hoch, die Arbeitsmärkte dynamisch, und die Wirtschaft wächst stetig. Der Süden, von Sizilien über Kalabrien bis Apulien, kämpft mit einer anderen Realität: Hohe Arbeitslosigkeit, chronische Armut und einer zögerliche Modernisierung. Im Norden Italiens ist das Pro-Kopf-BIP fast doppelt so hoch wie in den südlichen Regionen.
Dass so viele junge Menschen den Süden verlassen, macht also durchaus Sinn. Giulia spricht die Schattenseite an: Der Süden werde immer mehr zu einer Tourismus- Attraktion. Wohnungen werden zu Airbnbs, Supermärkte werden zu Souvenirläden, Traditionen gehen verloren. Mit ihnen: die südliche Seele. Noch dazu wird alles verhältnismäßig teurer.
Ein Problem, das die politischen Parteien wissen, für sich zu nutzen. "Sie gründen sogar eine eigene Partei, um uns loszuwerden", fährt Anna-Teresa fort.
Damit meint sie die Lega Nord. Die Lega Nord hat sich in der Vergangenheit für Autonomie und Selbstständigkeit der norditalienischen Regionen eingesetzt. Oft wurden wirtschaftliche Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien oder die Idee einer Spaltung thematisiert und aufgebauscht. Politische Bewegungen wie die Lega Nord haben den Gegensatz immer wieder thematisiert, mit Forderungen nach mehr Autonomie und einer stärkeren regionalen Eigenverantwortung. Trotz einiger Reformen bleiben die Unterschiede hartnäckig. Auch heute noch fühlt sich der Süden vom zentralen Staat oft im Stich gelassen – ein Gefühl, das von vielen Einwohnern geteilt wird.
Aber auch durch Wahlprogramme von Parteien im Süden wächst die Kluft zwischen Nord- und Süditalien. Mit der Wahlwerbung "IL OVERNO MELONI TRADISCE IL SUD" = "DIE REGIERUNG UNTER MELONI VERRÄT DEN SÜDEN" werden Diskussionen aufgeheizt. Mit Erfolg.
Was klingen mag, wie ein Streit zwischen spielenden Kindern, ist ein Konflikt, der über Jahrhunderte gewachsen ist. Während der Norden schon im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung begann, blieb der Süden weitgehend agrarisch. Auch nach der Vereinigung Italiens 1861 blieb die Region strukturell benachteiligt.
Die Stiefelsohle wurde politisch und wirtschaftlich vernachlässigt und strebt bis heute nach Förderungsmaßnahmen. Die Erfolge bleiben bis heute überschaubar.
Giulia hat es gleich mit 18 Jahren wieder in den Süden gezogen. Sie lebt jetzt in Neapel. Und möchte nie wieder zurück in den Norden. Sie möchte, dass es Menschen gibt, die hier im Süden leben. Sie möchte Traditionen aufrechterhalten.
Disclaimer: Ermöglicht wurde die Reise nach Italien durch das Projekt "Eurotours" des Bundeskanzleramts. Die Kosten für Unterkunft und Anreise wurden übernommen. Im Blog des Projekts gibt es alle Berichte aus den EU- und Balkanländern zu lesen.
(Anm* Begriffe*: Terroni bedeutet übersetzt so etwas wie Erdfresser oder Menschen, die auf dem Boden arbeiten. Der Begriff wird als beleidigender Begriff für Süditaliener:innen verwendet. Polentone bedeutet wörtlich übersetzt Polentafresser. Das hängt in erster Linie mit der Beliebtheit von Polenta im Norden Italiens zusammen. Noch heute wird der Ausdruck als abschätziger Beiname für Norditaliener:innen verwendet.)
Zusammenfassung
- In Italien gibt es große Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden.
- Vor allem wirtschaftliche Differenzen lassen diese Ungleichheiten wachsen.
- Diese werden von politischen Parteien aufgebauscht, um Wähler:innen für sie zu gewinnen.
- Das gelingt mit Erfolg, denn viele junge Italiener:innen pflegen eine Anti-Sympathie innerhalb ihres eigenen Heimatlandes.