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Sorge vor anstehenden Entlassungen aus dem Maßnahmenvollzug

Mit dem Reform des Maßnahmenvollzugs, auf den sich die Regierungsparteien einigen konnten, habe man den Umgang mit psychisch kranken Rechtsbrechern "endlich ins 21. Jahrhundert geholt", hatte sich Justizministerin Alma Zadic (Grüne) Ende 2022 gefreut. Die Hürden für eine Einweisung in ein so genanntes forensisch-therapeutisches Zentrum wurden in weiterer Folge deutlich erhöht. Das bereitet nun Expertinnen und Experten Kopfzerbrechen, das Justizministerium beruhigt.

Wie zunächst das Ö1-"Morgenjournal" am Mittwoch berichtete, müssen in naher Zukunft Dutzende zwangsweise Untergebrachte entlassen werden, weil die Kriterien für ihre Anhaltung weggefallen sind. Bisher war dafür eine mit mehr als einjähriger Haft bedrohte so genannte Anlasstat erforderlich, nunmehr braucht es in der Regel ein mit mehr als drei Jahren Haft bedrohtes Delikt, um zurechnungsunfähige, aber gefährliche Rechtsbrecher gegen ihren Willen im Maßnahmenvollzug unterbringen zu können.

Bei infolge einer psychischen Erkrankung nicht schuldfähigen jugendlichen Straftätern ist eine Einweisung überhaupt nur mehr bei einem Kapitalverbrechen mit einer Strafdrohung ab zehn Jahren möglich. Das gilt nicht nur für zukünftige Fälle, sondern auch für Personen, die derzeit angehalten sind und zum Zeitpunkt ihrer Einweisung das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, also nicht erwachsen waren.

"Ich sehe da große Probleme auf uns zukommen", zitierte Ö1 in diesem Zusammenhang die Wiener Strafrechtsprofessorin Katharina Beclin. "Personen, die bisher in einem geschlossenen System waren, wo ihnen komplett alles abgenommen wurde, werden von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt", warnte Beclin. Damit sei nicht gewährleistet, dass die zum Zeitpunkt ihrer Einweisung Gefährlichen und bei ihrer Entlassung womöglich nicht Geheilten oder Krankheitsuneinsichtigen ihre Medikamente nehmen. Ab Herbst - dann tritt die Regelung für Jugendliche und junge Erwachsene in Kraft - können an die Entlassung wegen minder- bis mittelschwerer Delikte wie Körperverletzung oder Raub ohne Waffengewalt auch keine Bedingungen - etwa Weisungen, eine Therapie fortzusetzen oder sich in ambulante Behandlung zu begeben - mehr geknüpft werden.

"Bei allen ist jetzt Feuer am Dach", hieß es dazu seitens eines Sachverständigen, der immer wieder im Maßnahmenvollzug Untergebrachte begutachtet. Die Justiz bemühe sich aber, die bevorstehenden Entlassungen insofern "aufzufangen", als die Betroffenen nicht komplett sich selbst überlassen werden, meinte der Experte gegenüber der APA.

Diese Bemühungen sieht der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) nicht. Der Bund habe "leider überhaupt keine Kommunikation" zu diesem Thema geführt, auch die Kostenfinanzierung sei ungeklärt, kritisierte Hacker im Ö1-"Mittagsjournal". Es gebe "null Vorbereitung", wenn aus dem Maßnahmenvollzug zu Entlassende wieder die Freiheit erlangen: "Die Psychiatrie ist ja nicht der verlängerte Arm des Maßnahmenvollzugs." Für die Betroffenen gebe es aus derzeitiger Sicht hinsichtlich Weiterbetreuung und Unterstützung "keine Lösung", das sei "bitter"und "ganz schlecht". "Der Bund stiehlt sich unelegant aus der Verantwortung", meinte Hacker, der deshalb das Justiz- und Gesundheitsministerium zur raschen Aufnahme von Gesprächen aufforderte.

Laut Justizministerium steht mit Stichtag 1. September österreichweit die Entlassung von neun und in weiterer Folge von rund 50 derzeit im Maßnahmenvollzug befindlichen Personen an, die zum Zeitpunkt ihrer Einweisung Jugendliche oder junge Erwachsene waren und die teilweise 15 Jahre oder mehr untergebracht waren. Jeder einzelne Fall werde vor dem Entlassungstermin einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt, wurde versichert. "Um eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung der Betroffenen auch nach ihrer Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug zu gewährleisten, ist das Ministerium im laufenden Kontakt mit den entsprechenden Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, Bundesländern, Anwältinnen und Anwälten sowie den Familien der Betroffenen", hieß es in einer der APA übermittelten Stellungnahme. Darüber hinaus würden zahlreiche weitere vorbereitende Maßnahmen getroffen, betonte das Justizministerium: "So etwa individuelle Sozialtrainings und Bewährungshilfe, begleitete Ausgänge und Sozialnetzkonferenzen mit allen beteiligten Einrichtungen." Das Ministerium stelle auch finanzielle Mittel für Betroffene zur Verfügung, die nach ihrer Entlassung eine weitere Betreuung etwa in einer therapeutischen Wohngemeinschaft benötigen: "Sollte dennoch von den Betroffenen nach ihrer Entlassung eine Selbst- oder Fremdgefährdung ausgehen, ist eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik nach dem Unterbringungsgesetz möglich."

SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim forderte von Justizministerin Zadic, den Übergang vom Maßnahmenvollzug in die Freiheit für Angehaltene ordentlich vorzubereiten: "Schon beim Beschluss durch die Bundesregierung haben wir davor gewarnt, beim Maßnahmenvollzug nur den halben Weg zu gehen. Die Justizministerin hat aber anscheinend genau das vor. Das birgt ein enormes Sicherheitsrisiko für die Menschen, die zuvor jahrelang in einer dichten und strukturierten Betreuung waren. Mit einer parlamentarischen Anfrage werde ich überprüfen, ob solche Konzepte überhaupt existieren."

Yildirim verlangte Verhandlungen mit den Ländern, in deren Kompetenz die Gesundheitsversorgung liegt, um eine sinnvolle betreute Entlassung zu ermöglichen. Eine "planlose Auflösung" provoziere ein Sicherheitsrisiko für die Entlassenen und die Bevölkerung und setze die Akzeptanz für die Reform des Maßnahmenvollzugs aufs Spiel.

Die Volksanwaltschaft will "genau beobachten", in welcher Form die entlassenen Personen weiterbetreut werden, kündigte Volksanwalt Bernhard Achitz (SPÖ) bei einer Pressekonferenz anlässlich der Präsentation des Jahresberichts der Volksanwaltschaft an. Bei den Nachsorgeeinrichtungen gebe es bereits einen großen Personalmangel, gab auch Volksanwältin Gaby Schwarz (ÖVP) zu bedenken.

Die Kriminalsoziologin Veronika Hofinger bedauerte gegenüber Ö1, dass mit der gesetzlichen Änderung beim Maßnahmenvollzug gewisse Sicherheitsinstrumentarien aufgegeben wurden: "Bisher konnte man aus der Maßnahme nur bedingt entlassen werden." Die Versorgung des bzw. der Betroffenen mit einem Wohn- und Therapieplatz sowie benötigten Medikamenten sei gewährleistet gewesen. "Das geht jetzt verloren, weil keine Möglichkeit mehr besteht, das anzuweisen", gab Hofinger zu bedenken.

ribbon Zusammenfassung
  • Mit dem Reform des Maßnahmenvollzugs, auf den sich die Regierungsparteien einigen konnten, habe man den Umgang mit psychisch kranken Rechtsbrechern "endlich ins 21. Jahrhundert geholt", hatte sich Justizministerin Alma Zadic (Grüne) Ende 2022 gefreut.
  • "Personen, die bisher in einem geschlossenen System waren, wo ihnen komplett alles abgenommen wurde, werden von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt", warnte Beclin.