Karners Weltblick: Macron und der "dritte Pol" Europa
Während in Österreich die politische Diskussion hauptsächlich von innenpolitischen Themen eher begrenzter Bedeutung für den Beitrag des Landes zur Entwicklung Europas dominiert wird, sieht sich die Welt in einer der bedeutsamsten Perioden der Neugestaltung der globalen Machtverhältnisse seit dem Ende des Kalten Krieges. Beschleunigt durch den Krieg in der Ukraine entwickelt sich eben nicht weniger als eine neue Weltordnung, und alle Akteure, solche, die es sind und potenziell bleiben werden, oder die es auch bleiben oder werden wollen, mischen in dieser Gemengelage mit. Kleinere Nationalstaaten weisen in diesem Prozess naturgemäß eine geringe Bedeutung auf, es sei denn, sie sind gleichberechtigter Teil einer multinationalen Entität. Umso bedeutsamer wäre es für Österreich, in diesem Prozess eine konstruktive und aktive Rolle in der EU im Interesse seiner Bürger:innen zu spielen.
Europäische Uneinigkeit in China
Der europäische Beitrag zur Entwicklung dieser neuen Weltordnung wurde in der letzten Woche durch europäische Politiker:innen jedenfalls ohne Not neuerlich marginalisiert: Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verpassten die Gelegenheit, bei ihrem Besuch in China durch inhaltlich und formell bewusst geschlossenes Auftreten ein einiges und starkes Europa zu demonstrieren. Dies lag allerdings weniger an von der Leyen, die neuerlich eine Demütigung erfuhr, als man ihr bei der Ankunft am Flughafen den normalen Touristenausgang zuwies, als vielmehr an Macron, der den Pomp des Staatsbesuchs, den man ihm als Staatsoberhaupt zuteilwerden ließ, auf Augenhöhe mit einem der mächtigsten Männer der Welt, dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, augenscheinlich genoss. Deutlicher hätte die Demonstration der Geringschätzung der sicherheitspolitisch schwachen multinationalen EU im Vergleich zu einer Nuklearmacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat der UN durch die chinesische Führung wohl kaum ausfallen können. Aber auch Macron unterließ es, Zeichen zu setzen, indem er etwa Frankreich stärker als Teil der EU positioniert hätte, im Gegenteil.
In einem Interview bei seiner Rückreise legte Macron, offenbar noch fortgerissen vom Eindruck des Staatsbesuchs, ein weiteres Signal drauf: Sinngemäß meinte er mit Blick auf die Taiwan-Frage, "die Europäer" dürften nicht in "fremden Krisen Mitläufer sein" und sich nicht "an den amerikanischen Rhythmus und eine chinesische Überreaktion anpassen". "Europa" müsse ein dritter Pol werden. Bereits aus den ersten Reaktionen auf diese Äußerungen wurde klar, dass Macron damit sich selbst und Frankreich, aber auch Europa und der EU keinen guten Dienst erwiesen hat. Auch wenn es in Frankreich bereits einen Begriff für derartige Irrlichthaftigkeiten von Politiker:innen gibt, die "Gleichzeitigkeit", in der völlig unterschiedliche Positionen vertreten werden können, ist die Person Macrons in ihrer Funktion in dieser Periode der multiplen Krisen zu wichtig, um darüber einfach unkommentiert wieder zur politischen Tagesordnung überzugehen. Zunächst stellt sich die Frage, was Macron eigentlich autorisiert, "Europa" gute Ratschläge zu erteilen. Europa, das sind auch die Ukraine und Russland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan u. a. Meint er aber die EU, dann wäre es doch wohl angebracht, dies zu benennen und die entsprechenden französischen Positionen konstruktiv im Europäischen Rat einzubringen. Von einer hohen Wertschätzung der EU als solcher zeugen derartige Formulierungen jedenfalls nicht. Macron beschädigt damit vor allem die Beziehung Frankreichs und der EU zu den Staaten Mittel- und Osteuropas, unerheblich, ob EU-Mitglied oder nicht, die zuallererst die USA als schützende Gegenmacht zum aggressiven Russland erleben und Unverständnis für das verhältnismäßig sanfte Auftreten Macrons gegenüber dem Diktator Putin noch nach dem Überfall auf die Ukraine hegen. Ihr latentes Misstrauen gegenüber der EU in einer Rolle als schützende Entität gegenüber russischen Machtansprüchen wird dadurch bestätigt, jenes gegenüber einer "EU-Führungsmacht" Frankreich geweckt bzw. verstärkt. Den Schluss, den die USA aus diesen Äußerungen ziehen, bringt ein Kommentar im Wall Street Journal auf den Punkt: Macron wolle, dass die USA zur Rettung Europas gegen die russische Aggression ausreite, nehme aber gegenüber der chinesischen Aggression im Pazifik eine neutrale Haltung ein. Er würde damit die Abschreckung dieser chinesischen Aggression und die US-amerikanische Unterstützung für Europa schwächen. Und selbst wenn sofort eine Armada an französischen Diplomaten ausrückte, die Macron'schen Wortspenden zu erklären bzw. ihre Interpretation zurechtzurücken, die Reaktion Chinas, wo diese in den Staatsmedien geradezu enthusiastisch kommentiert wurden, zeigt, wie sie mit Ausnahme Frankreichs wohl überall verstanden werden. Selbst aus Deutschland kommt harte Kritik.
Hausgemachte Pol-Schmelze
Wie oft in derartigen Fällen erklären einige Kommentatoren die Entgleisung Macrons mit wirtschaftlichen Gründen – sein Besuch erfolgte in Begleitung einer großen Delegation der französischen Wirtschaft - andere führen innenpolitische Motive oder sogar eine Retourkutsche auf das Ausbooten Frankreichs aus dem U-Boot-Geschäft mit Australien im Zuge der Gründung von AUKUS, der strukturierten Zusammenarbeit von Australien, den USA und Großbritannien im pazifischen Raum, ins Treffen. Was immer seine Motive gewesen sein mögen, Faktum ist, dass der Staatspräsident einer Nuklearmacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat der UN, die immer noch Anspruch auf globale Bedeutung erhebt und sich als Führungsmacht in der EU sieht, unvermittelt als unsicherer Kantonist gesehen wird, der gegebenenfalls bereit sein könnte, ein demokratisch regiertes Land der Aggression einer mächtigen Autokratie auszuliefern, sofern es den eigenen Interessen dient. Was in Wirklichkeit aber noch viel schlimmer ist: Genau mit derartigen Äußerungen macht Europa sich nicht zum "dritten Pol" auf der Weltbühne, sondern zeigt die Schwäche seiner Heterogenität und utilitaristischen Grundhaltung in ihrem vollen Ausmaß. Macron trägt so daher eher zur weiteren Marginalisierung als zur Stärkung der EU bei. Von einer europäischen Macht, die auf politischer Geschlossenheit, geistiger, wirtschaftlicher und militärischer Substanz aufbaut und nicht zuletzt klare Positionen und Strategien entwickelt, kann damit weiterhin wohl kaum die Rede sein.
Offensichtlich bedarf es in ganz Europa einer neuen Generation von Politiker:innen, um die Vision einer starken EU, die im Interesse ihrer Bürger:innen global und weitestgehend frei handlungsfähig ist, zu verwirklichen.
Zusammenfassung
- EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron verpassten bei ihren China-Besuchen die Chance, Einigkeit zu demonstrieren. Nach der Heimkehr marginalisierte Macron die EU weiter.