Vergessene Krisen - Über Hunger wird kaum berichtet
Zum sechsten Mal hat CARE mit dem Medienbeobachtungsdienst Meltwater die zehn Krisen und Katastrophen weltweit herausgefiltert, über die im vergangenen Jahr am wenigsten berichtet worden ist. Dabei wurden rund 1,8 Millionen Online-Berichte von 1. Jänner bis 30. September herangezogen. Zur traurigen Konstante ist dabei bereits geworden, dass vor allem auf die Krisenherde in Afrika südlich der Sahara in der Öffentlichkeit gern vergessen wird. Sechs der zehn am wenigsten beachteten Katastrophen ereigneten und ereignen sich dort, und fünf davon waren bereits im Vorjahr auf der Liste der zehn vergessenen Krisen.
Sambia lag im Vorjahres-Bericht auf Platz zehn, und seither ist die Berichterstattung über 1,2 Millionen Menschen, die nicht genug zu essen haben, weiter zurückgegangen. Heuer bedeutete das Platz eins in der Liste der vergessenen Krisen. Auch Malawi - heuer auf Platz drei - war im Vorjahr vertreten, auf Platz sechs: In dem südostafrikanischen Land sind 17 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Die Zentralafrikanische Republik, in der 2,8 Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigen, liegt heuer auf Rang vier (2021: Platz drei). Sie wurde bisher in jedem der "Suffering in Silence"-Reports erwähnt. In Burundi sind 2,3 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Heuer liegt das Land auf Platz sieben der am wenigsten berichteten Krisen, im Vorjahr lag es gar auf Platz eins.
In jedem "Suffering in Silence"-Bericht wurden bisher auch Länder der Sahel-Zone erwähnt. Im Vorjahr war es Mali, 2020 fand Burkina Faso Erwähnung, heuer ist es Niger auf Platz acht des Reports. 1,8 Millionen Kinder sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Simbabwe komplettiert auf Platz neun die Reihe afrikanischer Länder im Ranking der vergessenen Krisen, auch dort ist Hunger die Ursache. 5,7 Millionen Menschen haben in dem Land im Süden Afrikas nicht genug zu essen. Erstmals fand sich Madagaskar nicht auf der Liste der zehn am wenigsten beachteten Krisenherde.
Außerhalb Afrikas kam die Ukraine erneut in den "Suffering in Silence"-Bericht. Heuer liegt sie an zweiter Stelle, was angesichts der derzeitigen Berichterstattung über die russisch-ukrainische Krise umso überraschender erscheint. 2021 lag die Ukraine am vierten Platz - an der Ursache der Krise hat sich nichts geändert: 3,4 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe, hieß es im Vorjahr, und das gilt auch ein Jahr später exakt so.
Ebenfalls wie im Vorjahr findet sich Guatemala auf der Liste, heuer auf Platz fünf (2021: Platz zwei). Zwei Drittel der Bevölkerung müssen mit weniger als zwei US-Dollar (1,76 Euro) pro Tag auskommen. Mit Honduras kam heuer ein zweiter mittelamerikanischer Staat auf die Liste - auf Platz zehn. 2,8 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe. Auf Platz sechs landete ein südamerikanischer Staat: In Kolumbien leben laut CARE 4,9 Millionen Menschen unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen.
"Was mich überrascht hat, ist, dass sich drei lateinamerikanische Länder auf der Liste befinden", sagte Andrea Barschdorf-Hager, Geschäftsführerin von CARE Österreich. Überraschend sei dies, weil doch die USA Interesse haben sollten, was unweit ihrer Grenzen vor sich geht. "Jeder 28. Mensch auf der Welt benötigt humanitäre Hilfe. Das ist in jeder durchschnittlichen Schulklasse ein Mensch. Man kann die Grundversorgung nicht aufrechterhalten, man kämpft ums tägliche Überleben."
CARE wies unter anderem auf den verschärfenden Effekt des Klimawandels und der Corona-Pandemie hin. Barschdorf-Hager betonte, dass die Pandemie noch zusätzlich die Menschen in den Katastrophenregionen betrifft. "Das kommt on top." Und es beeinflusst auch die Arbeit der Hilfsorganisationen massiv: "Das kann man ja nicht ausblenden."
Der Klimawandel zeigt vor allem bei den Krisen in Sambia, Malawi, Simbabwe oder Burundi seine Auswirkungen. Betroffene wie Concessa Nizigiyimana aus Burundi bestätigten dies: "Überschwemmungen nach starken Regenfällen haben uns gezwungen, unsere zerstörten Häuser zu verlassen. Wir mussten in Camps Zuflucht suchen, wo wir unter Kälte und Hunger gelitten haben."
Chikondi Chabvuta, politische Beraterin von CARE für das südliche Afrika, schilderte aus Malawi, dass normalerweise der Regen im Oktober oder spätestens November in der Region einsetzt. 2021 regnete es zwei Tage, die Menschen pflanzten ihr Saatgut an, doch dann wurde es heiß bis 41 Grad Celsius und trocken. Die Ernte wurde vernichtet. Nach Weihnachten kam dann der Regen und löste Fluten aus, die auch die Häuser der Menschen zerstörten. Covid-19 kommt dazu: Chabvuta schätzte, dass 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung in ihrer Region infiziert sind.
Andrea Barschdorf-Hager wies darüber hinaus auf den Umstand hin, dass die Katastrophen immer besonders Frauen und Mädchen treffen. "Untersuchungen haben gezeigt, dass humanitäre Krisen differenzierte Auswirkungen auf Frauen und Männer haben. Häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt steigt an", sagte Chabvuta. Und Frauen seien sehr weit von Machtpositionen entfernt. "Ich will das nicht verallgemeinern, aber Frauen kümmern sich sehr oft um die Versorgung und sind gerade im südlichen Afrika stark in der Landwirtschaft engagiert", ergänzte Barschdorf-Hager. Diese Umstände bedingen, dass sie allein oft große Distanzen zurücklegen müssen, um Essen zu organisieren oder auch Holz zu sammeln.
Für die humanitäre Hilfe heißt das: "Wir müssen wirklich darauf achten, dass Frauen und Mädchen in der Schlange nicht weggedrängt werden, und das, was sie bekommen, auch sicher nach Hause bringen können", sagte die CARE-Geschäftsführerin. Es sei auch eine Spezialität ihrer Hilfsorganisation: "Wenn man wirklich helfen will, muss man auf spezielle Bedürfnisse Bezug nehmen." Frauen und Mädchen seien eine eigene Zielgruppe.
Und es werde vor allem über Hunger, Armut und Flucht zu wenig berichtet: "Vergessene Krisen sind auch für Hilfsorganisationen eine besondere Herausforderung. Mit der mangelnden Bekanntheit geht nicht selten auch eine geringe finanzielle Unterstützung einher. Dadurch fehlt es jedoch am wichtigsten - nämlich an konkreter Hilfe für die betroffenen Menschen vor Ort", sagte Barschdorf-Hager. Wobei Berichterstattung kein Garant für Spendenaufkommen sei - das habe das Beispiel Haiti gezeigt, wo trotz gestiegener Berichterstattung andauernd zu wenig Geld da ist. "Aber wer aus dem öffentlichen Interesse herausgerückt ist, hat ganz schlechte Karten."
Zehn humanitäre Krisen, die 2021 keine Schlagzeilen machten:
Zusammenfassung
- Von der Öffentlichkeit weltweit weitgehend unbemerkt ist der Hunger zurückgekehrt, zum Beispiel in Sambia.
- 512 Mal wurde die Hungerkatastrophe mit 1,2 Millionen Betroffenen in dem Land im südlichen Afrika im vergangenen Jahr in Online-Medien erwähnt, wie aus dem am Donnerstag präsentierten Report "Suffering in Silence" der Hilfsorganisation CARE hervorgeht.
- 5,7 Millionen Menschen haben in dem Land im Süden Afrikas nicht genug zu essen.