Präsident Selenskyj besucht zurückerobertes Cherson
"Es ist wichtig, dass die Vereinigten Staaten und China gemeinsam verdeutlicht haben, dass Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen inakzeptabel sind. Jeder versteht, an wen diese Worte gerichtet sind", sagte Selenskyj zu den separaten Erklärungen der beiden Länder im Anschluss an ein Treffen von US-Präsident Joe Biden mit seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jingping vor dem G20-Gipfel auf Bali. Beide Männer sprachen sich nach US-Angaben gegen russische Drohungen aus, in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen. Nach chinesischer Darstellung unterstützt Xi neue Friedensgespräche zwischen den Regierungen in Moskau und Kiew.
Unter dem Druck erfolgreicher ukrainischer Gegenoffensiven war die russische Armee am vergangenen Freitag komplett vom rechten Ufer des Flusses Dnipro abgezogen. Dabei gab sie auch die einzige seit Kriegsbeginn Ende Februar eroberte Gebietshauptstadt Cherson auf. Ukrainischen Angaben nach sind noch etwa 80.000 von ehemals rund 280.000 Menschen in der Stadt geblieben. Ein erster UNO-Konvoi mit Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Hygieneartikeln erreichte Cherson ebenfalls am Montag. Damit seien mehr als 6.000 Menschen versorgt worden, teilte das UNO-Nothilfebüro in Genf mit. Eine Klinik erhalte Medikamente und Material zur Behandlung von mehr als 1.000 Patientinnen und Patienten.
Nach Angaben der Ukraine haben russische Truppen vor ihrem Abzug aus Cherson ein wichtiges Kraftwerk zerstört. "Die Energieanlage, die das gesamte rechte Ufer der Region Cherson und einen bedeutenden Teil der Region Mykolajiw mit Strom versorgte, ist praktisch zerstört", erklärte der Leiter des staatlichen Stromversorger Ukrenergo, Wolodymyr Kudryzkyj, am Montag im Onlinedienst Facebook. Der größte Teil der befreiten Region sei bereits seit dem 6. November ohne Strom, sagte Kudryzkyj. Die Ukraine habe bereits "die Liste der notwendigen Ausrüstung (...) an unsere internationalen Partner weitergegeben. Polen und Frankreich haben bereits geantwortet", erklärte er.
Die Kämpfe werden sich nach Einschätzungen von Experten nun vom Süden der Ukraine auf andere Regionen verlagern. Der Fluss Dnipro gilt als schwer zu überwindende Barriere. Die Querung des Flusses wäre für die ukrainische Armee in jedem Fall mit hohen Verlusten und enormem Aufwand verbunden, zumal die russischen Truppen in den letzten Wochen starke Verteidigungsstellungen am anderen Ufer errichtet haben.
Daher gelten andere Angriffsrichtungen als aussichtsreicher. Die Experten des Institute for the Study of War (ISW) vermuten, dass das Kiewer Militär seine in Cherson frei gewordenen Ressourcen für die Wiederaufnahme der Offensive im Nordosten der Ukraine, im Gebiet Luhansk, verwenden könnte. "Ukrainische Kräfte haben weiter begrenzte Fortschritte im Gebiet Luhansk erzielt und sind wohl in der Lage, diese zu vergrößern, wenn sie durch Truppen aus West-Cherson verstärkt werden", hieß es in der Analyse des ISW.
Russland wiederum wird weiter südlich im Donbass versuchen, seine Angriffe zu verstärken. Die Eroberung des Gebietes Donezk gilt seit Kriegsbeginn als eines der Kernziele des russischen Angriffs. Die Kämpfe in der Region haben in den letzten Tagen massiv an Intensität gewonnen. Als potenzielles Angriffsziel gilt zudem die Region Saporischschja.
Der bevorstehende Winter wird die Kämpfe in der Ukraine nach britischer Einschätzung indes deutlich beeinflussen. "Veränderungen bei Tageslichtstunden, Temperatur und Wetter bedeuten einzigartige Herausforderungen für die kämpfenden Soldaten", teilte das Verteidigungsministerium in London am Montag mit. Weil die Tageslichtstunden deutlich abnehmen, werde es weniger Offensiven und dafür mehr statische Verteidigungslinien geben.
Die Winterbedingungen führten zu Kälteverletzungen und würden die ohnehin schon niedrige Moral der russischen Armee vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Sie bedeuteten aber auch Probleme für die Wartung der Ausrüstung. Auch ukrainische Soldaten seien von den Konditionen betroffen.
Die Ukraine sucht unterdessen internationale Hilfe bei der Rückholung tausender Kinder, die nach Kiewer Angaben nach Russland verschleppt worden sein sollen. Es gehe mindestens um 11.000 Kinder, deren Namen bekannt seien, sagte Präsident . Selenskyj am Montag in seiner abendlichen Videoansprache. "Aber das sind nur die, von denen wir wissen. In Wahrheit sind mehr verschleppt worden." Der Leiter des Präsidialamtes in Kiew, Andrij Jermak, beriet am Montag in einer großen Online-Konferenz über das Problem. Daran nahmen auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres sowie die Botschafter der Zwanziger-Gruppe großer Industrie- und Schwellenländer (G20) teil. Der jährliche G20-Gipfel tagt derzeit in Indonesien.
Das russische Militär und russische Behörden bestätigen durchaus, dass Kinder aus der Ukraine nach Russland geholt werden. Sie würden aus den Kampfzonen in Sicherheit gebracht oder kämen zur Behandlung oder Erholung nach Russland. Es gibt auch Berichte, dass ukrainische Kinder in Russland zur Adoption freigegeben worden sind.
Zusammenfassung
- Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist in die befreite Großstadt Cherson im Süden des Landes gereist - nur wenige Tage nach dem Abzug russischer Truppen.
- Er wolle den Menschen in Cherson mit seiner Anwesenheit seine persönliche Unterstützung ausdrücken, sagte Selenskyj am Montag vor Journalisten.
- Nach Angaben der Ukraine haben russische Truppen vor ihrem Abzug aus Cherson ein wichtiges Kraftwerk zerstört.