Harrer: Nahost-Krieg wird nicht mit Geiselfreilassung beendet

Journalistin Gudrun Harrer analysiert den Krieg im Nahen Osten. Mit der Meldung über den Tod eines Fünftel der israelischen Geiseln gäbe es weder für die Hamas noch für Netanjahu einen Anreiz um die Freilassung zu verhandeln.

Am Dienstagabend wurde bekannt, dass ein Fünftel der noch verbleibenden Hamas-Geiseln bereits tot sei. Organisatorisch und ideologisch gäbe es die Hamas noch - eine Zerschlagung sei schwierig. Der führende Hamas-Chef Jihia Al-Sinwar befindet sich aktuell auf der Flucht - auch deshalb seien Verhandlung über verschiedene Szenarien schwierig, so Journalistin Grudrun Harrer. Sie ist leitende Redakteurin bei der Tageszeitung "Der Standard" und beschäftigt sich schon lange mit dem Nahen Osten.

Seit vier Monaten herrscht im Gaza-Streifen Krieg. Nach dem Angriff der terroristischen und radikal-islamistischen Hamas, bei dem mehr als 1.000 Jüdinnen und Juden um Leben kamen, läuft in Palästina ein Militäreinsatz. Das erklärte Ziel der umstrittenen israelischen Regierung unter Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ist die Zerschlagung der Hamas - nur ist die Terrorgruppe tief verflochten mit der zivilen Infrastruktur in Gaza.

Mehr als 27.000 Menschen sind auf palästinensischer Seite bereits ums Leben gekommen - diese Angaben lassen sich unabhängig allerdings nicht überprüfen.

"Religiöser Faschismus"

Doch: "Von einer Zerschlagung kann man nicht sprechen", so Harrer. "Die Ausgangslage ist ideologisch nicht viel besser als vor vier Monaten". Am Dienstag hatte der Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte, Arye Shalicar, im Interview auf PULS 24 die Ideologie von Nazideutschland mit der der radikal-islamistischen Palästinenser verglichen. 

"Alle diese Ideologien haben etwas gemeinsam", sagt Harrer. Die Hamas würde auch einen "religiösen Faschismus hineinbringen". 

Die Geiseln seien ein Druckmittel der Hamas, aber auch der Angehörigen der Familien, um die israelische Regierung an den Verhandlungstisch zu bekommen. Laut Berichten würden "nur" mehr 80 der 136 Geiseln leben. Damit würde die Befreiung der Geiseln auch als Kriegsziel für Netanjahu weniger attraktiv werden.

In den Augen der Geisel-Angehörigen kann Netanjahu die Verluste nicht mehr gutmachen - somit fehle auch für ihn ein Ansporn. Die Familien wollen einen Deal "jetzt" - aber es sei unsicher, wie viele noch zurückkehren können, so Harrer.

Geisel-Freilassung wird Krieg nicht beenden

"Diese Annahme, dass der Krieg mit der Geiselfreilassung dann einfach beendet sein wird, ist absurd, das wird nicht gehen", denkt die Journalistin. Was nach der Freilassung kommen würde, sei komplett offen. Die Hamas würde danach bestimmt nicht sagen "hier habt ihr den Schlüssel für den Gaza-Streifen". 

Im Moment sei man von einer Vereinbarung sehr weit entfernt, so Harrer, auch wenn es Verhandlungen gebe. 

Eskaliert der Iran?

Dass der Iran seit Jahren Geld und Waffen nach Gaza liefere, sei nichts Neues. Harrer sieht keinen Grund, das anzuzweifeln. "Das wissen wir, dass die Hamas ein wichtiges Element auf der sogenannten Achse des Widerstandes des Iran ist." Aktuell würde die Hamas massiv geschwächt werden. Harrer denkt, dass der Iran es auf den anderen Fronten (Jemen, Jordanien) nicht "völlig" eskaliert, um hier nicht weiter geschwächt zu werden. Entscheidend sei für den Iran die Hisbollah im Libanon.

"Natürlich ist die Hamas nicht mehr die Hamas, wie vor dem 7. Oktober." Der islamische Dschihad sollte in diesem Zusammenhang als Organisation nicht unerwähnt bleiben, so Harrer. 

ribbon Zusammenfassung
  • Selbst wenn alle Geiseln freigelassen würden, wäre der Krieg im Nahen Osten nicht vorbei.
  • Das sagt Journalistin Gudrun Harrer im Interview mit PULS 24.
  • Je weniger Geiseln noch lebend in Gefangenschaft der Terrororganisation Hamas seien, desto geringer ist der Anreiz für Hamas und Netanjahu über ihr Schicksal zu verhandeln.
  • Dass der Iran Waffen an die Hamas liefert sei nicht neu, er habe aber Interesse daran, seine anderen Proxy-Gruppen, wie die Hisbollah im Libanon, nicht genauso zu schwächen, wie die Hamas.