50 Jahre Romapolitik: Österreich als Vorreiter, aber noch viel zu tun
Die stellvertretende Abteilungsleiterin der EU-Grundrechteagentur (FRA), Ursula Till-Tentschert etwa betonte, dass die Situation in Europa "noch immer verheerend" sei. Roma seien besonders in Ost- und Südeuropa von Armut und prekären Wohnverhältnissen weiterhin stark betroffen. 80 Prozent der Roma in Ost- und Südostseuropa seien armutsgefährdet, im EU-Schnitt liege dieser Wert bei 17 Prozent. 30 Prozent leben laut einem Bericht aus dem Jahr 2016 in Haushalten ohne Leitungswasser und 46 Prozent haben keine Innentoilette, Dusche oder Bad. Die Lebenserwartung sei um zehn Jahre geringer als jene der Gesamtbevölkerung.
Die EU betreibe seit zehn Jahren eine aktive Roma-Integrationspolitik, sagte Till-Tentschert. Der neue EU-Strategierahmen, der am 12. März von den EU-Staaten angenommen wurde, ziele auf Gleichbehandlung, Inklusion und aktive Partizipation der Roma- Gemeinschaft ab.
Die Leiterin der Romapastoral der Diözese Eisenstadt und Gemeinderätin Manuela Horvath sagte, dass die Anerkennung der Volksgruppe 1993 in Österreich ein "Meilenstein" gewesen sei. "Meiner Generation stehen in Österreich alle Bildungswege offen." Gleichzeitig gebe es aber kaum einen Rom oder eine Romni, die keine Erfahrung mit Diskriminierung gemacht haben. Horvath erzählte von einer Fleischerei, die ein Produkt namens "Zigeunerwurst" verkaufte. Erst nachdem sie den Unternehmer darauf aufmerksam machte, dass der Begriff rassisch sei, wurde das Produkt umbenannt.
Usnija Buligovic vom Thara Arbeitsmarktprojekt für Roma und Sinti, Volkshilfe, berichtete, dass die Coronapandemie gerade Roma und Sinti besonders betroffen habe. Viele hätten ihre Arbeit verloren, seien in Kurzarbeit oder aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung für den Familienhartefonds nicht anspruchsberechtigt.
Die österreichische Roma-Strategie werde aktuell durch die Universität Wien evaluiert, erklärte Raab. Die Ministerin verwies außerdem auf zwei Ministerratsbeschlüsse vom Mittwoch: Die Regierung beschloss die Fortschreibung der österreichischen Strategie zur Fortführung der Inklusion der Roma in Österreich und übernahm die Arbeitsdefinition von Antiziganismus der International Holocaust Remebrance Alliance (IHRA). Diese Definition kann Grundlage sein für die wirksamere Umsetzung von Maßnahmen gegen Diskriminierung und Bewusstseinsbildung, etwa wenn es um die Leugnung des Genozids an den Roma während der NS-Zeit geht.
Der Vorsitzende des Volksgruppenbeirats der Roma, Emmerich Gärtner-Horvath, hofft darauf, dass das Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung noch näher gebracht werde. Es gebe derzeit etwa 20 Gedenkstätten im Burgenland, tatsächlich habe es aber mehr als 130 Romasiedlungen vor 1938 gegeben, sagte er: "Es gibt also sehr viel zu tun." Die Zeithistorikerin Sabine Schweitzer berichtete, dass Roma und Sinti in der NS-Zeit die erste Volksgruppe war, die zur Zwangsarbeit herangezogen wurde. Viele Orte seien nach der Deportation der Roma in die Zwangs- oder Konzentrationslager "ausgelöscht und abgebaut" worden. Durch neue Forschungen konnten auch die Orte der Zwangslager ausfindig gemacht werden.
Das Anhaltelager Lackenbach im Burgenland sei ein "Stachel im Fleisch", sagte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP). Es werde notwendig sein, ein nationales Denkmal der Erinnerung sowie als Zeichen für den andauernden Kampf gegen den Antiziganismus von Seiten der Republik zu setzen. Antiziganismus sei mit anderen rassistischen Vorurteilen nicht eins zu eins zu vergleichen, da er über Jahrhunderte gewachsen sei. Das Momentum sei nicht nur in Randgruppen verbreitet, antiziganistische Haltungen würden auch in der Mitte der Gesellschaft - teilweise bedachtlos, teilweise bewusst - gesetzt. Sobotka betonte, dass es Aufgabe aller 183 Nationalratsabgeordneten sei, gegen Antiziganismus aufzutreten. Er rief außerdem Roma auf, sich nach dem Beispiel Horvaths in Gebietskörperschaften zu engagieren und ihre Anliegen vorzubringen.
Wiens Bürgermeister Michael Ludwig erklärte unterdessen, dass es ihm "ein wichtiges persönliches Anliegen" sei, ein sichtbares Zeichen gegen Diskriminierung und für Solidarität zu setzen - Solidarität nämlich mit der größten ethnischen Minderheit in Europa, die immer noch vielerorts unter Ausgrenzung und Rassismus zu leiden hat". Angesichts des Genozids an den europäischen Roma und Sinti in der Zeit des Nationalsozialismus sei es auch eine moralische Verpflichtung, die sich aus der Geschichte ergebe und "wir in Wien sehr ernstnehmen", sagte Ludwig am Donnerstag in einer Aussendung.
ÖVP-Volksgruppensprecher Niki Berlakovich betonte, dass weiterhin gegen Ausgrenzung, Gewalt und Hetze gegen Volksgruppen aufgetreten werden müsse. "Gleichzeitig wollen wir mit diesem Tag auch die Kultur dieser ethnischen Minderheit feiern", so Berlakovich. Niki Kunrath, Gemeinderat der Grünen Wien, ergänzte: "Es ist uns wichtig den Roma und Romnija, als größte Minderheitengruppe Europas, anlässlich des heutigen Gedenktags, die entsprechende Aufmerksamkeit zu geben." Der Tag habe eine doppelte Funktion: Erinnerung an die Opfer antiziganistischer Gewalt sowie die Verdrängung rassistischer Fremdbezeichnungen. "Rassistische und abwertende Begrifflichkeiten haben in unserem Sprachgebrauch keinen Platz!", so Kunrath.
Zusammenfassung
- Österreich ist "besonders vorbildlich im Bereich der Umsetzung der EU-Romastrategie".
- Das sagte Integrationsministerin Sabine Raab (ÖVP) am Donnerstag bei einer Veranstaltung anlässlich des Internationalen Tages der Roma und Sinti und dem Gedenken an den ersten Roma-Welt-Kongress vor genau 50 Jahren im Parlament in Wien.
- 80 Prozent der Roma in Ost- und Südostseuropa seien armutsgefährdet, im EU-Schnitt liege dieser Wert bei 17 Prozent.